STUFE EINS:
REFLEXION
INVERSION
RECOVERY
oder
ODE AN
DAS PRÄLUDIUM ZUR FILMREZENSION EINES FAUNS
Minus 6.
Please start reading,
now:
AGAINST INTERPRETATION
by Susan Sontag
Minus 5.
Dann:
Die Moritat von der
unerträglich vielfältigen Ekelhaftigkeit des
Mannes an sich
Minus 4.
- I didn’t
need this much nerve for a movie
since I cringed
sufferingly from Ghosts of the Civil Dead -
Minus 3.
Zu Beginn war der Tod
das Ende der Reise der Frau zu sich selbst.
Jetzt ist es der
wilde, gewagte Schritt ins Unkonventionelle,
ein Sprung, um
schneller zu sein als der schnellste Zug
Deutschlands.
Minus 2.
Frauen auf Motorrädern
auf der allegorisch-cinematographischen Reise
zu sich selbst durch
die Welt der Männer haben eine Tradition des
Sinnlichen
- schon Marianne
Faithfull wippte in schwarzem Leder
auf und nieder auf dem
Sattel
unterwegs zu ihrem
Literaturprofessor in Heidelberg (der aussah wie
Alain Delon)
Bei Marianne Faithfull
endete die Reise noch mit dem Tod,
ähnlich wie in
„Siesta“ bei Ellen Barkin,
obwohl letztere gar
kein Motorrad fuhr, sondern ein Stuntgirl war.
Minus 1.
Am Anfang war
Katharina Schüttler.
Danach kam der
Kunstgriff,
einen gleichzeitig
tollen wie kritischen wie entkopften Film
um sie herum zu
konstruieren.
0. Auf dem Motorrad durch den
langen langen Tunnel
– am Ende das Licht.
1. Sophie ist Zuhause am
Heulen, langer Schleim läuft ihr aus der Nase,
ihr Freund fährt
gerade noch den Rechner herunter, bevor er sich
ihr widmet
(das sagt eigentlich
schon alles aus über die Beziehung und den Rest
des Films).
Er: „Morgen ist alles
vorbei“ (gemeint ist die Abtreibung) –
Sie: „Kann ich die
Monster haben?“ (gemeint ist das Motorrad)
Wir benutzen den
Sexwunsch des Mannes bloß pseudovoyeuristisch
als Sophies Trick, um
an seinen Motorradschlüssel heranzukommen.
2. Sophies wilde Fahrt durch
die Stadt – atmosphärisch, stimmungsvoll
dahinsausend,
mit geschlossenen
Augen über die Kreuzung ...
entweder Leben
oder Tod – so ist es die ganze Zeit ...
3. Die abgefuckte, asoziale
Low-Class-Männerkneipe – eine versuchte
Vergewaltigung
in der Menge der
Kneipenbesucher (das soll realistisch sein?) und
deren gelungene
Umkehrung durch Sophie
mittels zerschlagenem Bierglas:
plötzlich der Mann
voller Angst um seinen einzigen Schatz, seinen
Schwanz.
4. Nasiz, der palestinensische
Taxifahrer.
Oh jeh.
Lange Episode, eine
Fahrt ohne Ziel,
wo soll die versuchte
Provokation seiner Person durch Sophie eigentlich
hin?
– als hätte er
ihr was getan (anstatt sie vor den asozialen
Besoffenen gerettet) ...
5. Aber sie hat kein Geld,
will also kurz mal am Bankautomaten eine andere
Frau überfallen,
wird stattdessen
selber überfallen und vergewaltigt, dies aber
gegen Geld,
sie wäscht das Sperma
auf Toilette ab, ebenso den Schein (wobei der
Alustreifen abgeht), den der Kellner daraufhin für
eine Blüte hält,
also ruft sie ihren
Freund an, verabredet sich mit ihm in einer
Pizzeria in der Goethestr.
6. Der charmant-doofe,
schlecht entworfene Nasiz ist begeistert, endlich
ein Ziel.
In der Pizzeria wartet
der Freund (Alexander Beyer ist einfach
phänomenal).
Eine wahnwitzige
Episode – er heuchelt Verständnis und Gefühl
Sophie klaut ihm Geld,
er glaubt, unbemerkt von ihrem Teller zu essen,
dabei sieht sie ihm
schockiert zu, hinter ihm stehend, und verläßt das
Lokal.
7. Eine Reihe von Taxifahrern
wird abgearbeitet;
eine dieser Episoden
ist äußerst skurril: Sophie überredet einen
älteren Taxifahrer,
daß er sie mit zu sich
nach Hause nimmt, damit sie beide seine Frau
besuchen,
als sie bei ihm
eintreffen, ist seine Frau allerdings nicht da:
er ruft sie an wie
immer (soso, eine Rufumleitung für den
Festnetzanschluss?),
„Aah ja, du gehst
gerade ins Bett, und wo ? ... Nein, du bist nicht
zuhause, ich bin nämlich zuhause!“
8.
Der nächste Taxifahrer
fährt sie in einen Puff
(von wo er gerade die
Frau des anderen Taxifahrers gebracht, wie man an
ihrem Outfit erkennen kann).
Gigi, der Besitzer,
macht sich an sie heran,
sie ist erst hin und
weg von den Drogen im Champagner,
aber dann bedroht er
sie mit einer Pistole,
doch sie schafft es
durch ihr blödes cooles Gerede,
daß er völlig die
Nerven verliert und nicht abdrücken kann.
9.
Warum kann Robert
Stadlober
keinen dummen normalen
jungen Mann spielen,
der einfach nur
Kartenabreißer in einem Kino ist?
Er kann bloß intensiv
spielen,
d.h. entweder gequälte
(Engel und Joe) oder besessene (Sonnenallee)
oder verzauberte
(Crazy) Charaktere?
Er spielt einen leicht doofen
und tumben Typen, der keine Freunde hat,
der so tut, als ob er
auch cool/verständnisvoll und
ausgeflippt/liebevoll sein könnte,
dabei weiß er, daß er
hoch stapelt und niemals Freunde haben wird.
Der eindeutige
Unterschied: Robert spielt Toby – Katharina
personifiziert Sophie ...
10. Sie gehen ins Luxushotel
und saufen sich zu.
Sie erzählt ihre
Geschichte (will ihrem Freund nämlich nicht sagen,
von wem sie schwanger ist).
Er will keinen Sex,
Sex ist ihm plötzlich nicht geheuer mit ihr,
sie ist sauer,
plündert die Minibar und geht wieder.
11.
In der U-Bahn säuft
sie vier Flaschen Schnaps und Champagner
hintereinander.
Sie knallt auf den
Boden, bleibt liegen,
wacht auf, um sie
herum die zur Arbeit fahrenden, alle ignorieren
sie.
Draußen scheint die
Sonne.
Auf der Rolltreppe
fällt sie um, klemmt sich die Haare oben ein,
entsetzliche Panik.
12.
Der Versuch, ins Hotel
zurückzugelangen, scheitert,
ihr fällt Tobys
Nachname nicht ein. Eine realistische Kotzszene
folgt – sie wird hinausgeschmissen.
Wie tot liegt sie auf
dem Rasen, als der städtische Gartenarbeiter die
Rasensprenger anstellt,
er nimmt sie auf
seinen Wagen und fährt sie ins Krankenhaus.
Früher wär‘ der Film
zu Ende gewesen,
man hätte sie
stattdessen auf den Müllwagen geworfen und
weggefahren.
13.
Im Krankenhaus
natürlich der einzig gute Mann auf der Welt, man
sieht es ihm an,
der einzige Schwule in
dem Film (wenn auch nicht explizit).
14.
Im Restaurant dann -
die Fehlgeburt.
Das Splatterdepartment
mit dezentem Einsatz:
Sophie läuft mit dem
totgeborenen, handflächengroßen
Fleischkloß durch die
Fußgängerzone.
Frauen schauen sie
entgeistert und aufgewühlt an – Männer nehmen sie
nur wahr
als blutverschmierte,
völlig besoffene Asoziale.
15.
Sie ruft einen
Seelsorger an.
Dieser kotzt sich am
Telefon über sie aus.
„Menschen wie Sie sind
eine Krankheit unserer Zeit.“
16.
Sie beerdigt das tote
Etwas in einem Park.
17.
Am Bahnsteig die
vermeintliche Erlösung:
Drei polnische Cowboys
spielen ihr zuliebe auf und zeigen ihr,
wie man den Two-Step
tanzt.
Das erträgt sie
natürlich auch nicht.
18.
Der schnellste Zug
Deutschlands naht und wird gleich am Bahnsteig
vorbeirasen.
Sie sieht ihn schon in
die Kurve einbiegen.
19.
Der Zug rast am
Bahnsteig vorbei,
während der polnische
Cowboy auf einmal nach dem Mädchen sucht.
Sie scheint nirgendwo
zu sein.
Dann, als der Zug weg
ist, sieht er sie unten auf der anderen Seite
neben dem Gleis liegen.
Er springt hinunter,
nimmt sie in die Arme,
sie öffnet die Augen.
20.
Sie war im
letztmöglichen Moment gesprungen.
Wieder die
Entscheidung Leben oder Tod -
wieder war sie
schneller gewesen.
Für
Sophiiiie! braucht man starke Nerven. Die
Moritat von der allegorischen Suche einer jungen
Frau nach dem Glück inmitten der unerträglich
vielfältigen Ekelhaftigkeit der Heteromänner wühlt
auf (eigentlich könnten wir uns angesichts von
soviel widerlichem Machismo dazu beglückwünschen,
daß wir schwul sind). In der ersten Szene voll
leuchtender warmer Farben fährt Sophie auf dem
Motorrad durch einen langen Stadtautobahntunnel, an
dessen Ende erscheint ein helles weißes Licht, in
das der Zuschauer und das Bild hineingleiten - eine
Irreführung... An der Stelle, wo dieses weiße
Licht früher den Tod bedeutet hätte, steht hier der
Sprung in ein neues Leben. Doch der kommt erst am
Schluß – nach einer langen Reise durch die Nacht.
Die
junge Schauspielerin Katharina Schüttler als Sophie
steht stets im Mittelpunkt des Geschehens. Regisseur
Michael Hofmann konstruierte - ein Kunstgriff -
statt einer auf den Leib geschriebenen Rolle
gleich einen ganzen Film um sie herum. Schon die
ersten Szenen voller Intensität lassen erkennen, daß
Katharina Schüttler in den folgenden 107 Minuten
beweisen wird, was alles in ihr steckt: Während
Sophie völlig verzweifelt ist über ihren morgigen
Abtreibungstermin, fährt ihr Freund gerade noch den
Rechner herunter, bevor er sich ihr widmet (das sagt
eigentlich schon alles aus über ihre Beziehung und
den Rest des Films). Alexander Beyer, bekannt aus Sonnenallee
und Goodbye, Lenin, brilliert hier als das
besagte Ekelpaket. Kurz entschlossen klaut Sophie
ihm sein geliebtes Motorrad und rast damit durch die
Straßen Hamburgs - mit geschlossenen Augen über die
Kreuzung! Die Entscheidung muß fallen in der
anbrechenden Nacht: Tod oder Leben ...
Es
folgt eine Reihe von kaum erträglichen Begegnungen
mit anderen Männern (es gibt nur wenige andere
Frauen, und die haben sich scheinbar der
sexistischen und auf reine Konfrontation
konditionierten Männerwelt angepaßt). Die erste
dieser Begegnungen findet in der asozialsten
Biertrinkerkneipe statt, wo Sophie beinahe
vergewaltigt wird, sich aber einfallsreich zur Wehr
setzen kann. Die diversen Taxifahrer, mit denen
Sophie im folgenden durch die Straßen fährt, sind
dann ausnahmsweise eher skurril als unangenehm, doch
in einem Edelpuff folgt gleich wieder ein weitere
brutale Begegnung. Durch Drogen im Champagner ist
sie hin und weg, doch als der Besitzer des
Etablissements sie mit der Pistole bedroht, wird sie
wieder kaltblütig und macht ihn allein durch ihre
treffenden Worte unschädlich.
Selbst
der Traumboy der Nacht - Robert Stadlober als tumber
Kinokartenabreißer – entpuppt sich als
enttäuschender Moralapostel. Der Absturz ist
vorprogrammiert – sie flüchtet weiter in die Nacht,
besäuft sich sinnlos und wacht im Krankenhaus auf.
Der Arzt, dem sie dort, begegnet, ist natürlich der
einzige gute Mann auf der Welt - man sieht
es ihm fast zu sehr an, er ist auch der einzige
Schwule, der in dem Film auftaucht.
Sophie
beschließt, daß sie das Kind bekommen will, doch die
Fehlgeburt ist unvermeidlich. Wie erschlagen taumelt
Sophie durch die Fußgängerzone; ein Seelsorger, den
sie anruft, beschimpft sie rüde als
Krankheitssymptom unserer Zeit. Als Sophie das Leben
schließlich völlig sinnlos erscheint (eine absurde
Szene: drei polnische Cowboys spielen für sie am
Bahnsteig auf und zeigen ihr den Two Step), springt
sie über das Gleis, als der Schnellzug durchrast,
doch wieder war sie schneller, sie liegt unversehrt
auf der anderen Seite des Gleises, sie öffnet die
Augen ... - und fängt von neuem zu leben an.
So
endet Sophiiiie! trotzdem hoffnungsvoll.
Keine seichte Unterhaltung, aber fern von
verkopftem, hyperintellektuellem Beziehungsdrama,
ein wilder schöner Film über eine echte Frau und
andere Menschen auf der Suche nach Klischeeferne –
mit einem einzigartigen Schauspielerensemble, allen
voran Katharina Schüttler. Zwei von drei.
STUFE DREI - DAS ENDPRODUKT
(hier leicht verfremdet in einer Collage
aus mehreren Elementen des Heftes dargestellt)