LIEBE IST IM ZENTRUM DAVON




 
 
 
 
”Geliebter  Jan –

Ich bin immer noch erfüllt von diesem Glücksgefühl. Den ganzen Tag hab‘ ich traumselig und dämmertrunken verbracht, meine Arbeit getan, ohne nachzudenken. Ständig schwelgte ich in der Empfindung, noch deine Lippen auf den meinen zu fühlen, noch immer dich in mir und mich in dir zu fühlen, immer noch mit deinem Duft auf meiner Haut... Ich vergesse alles in diesem rasenden Taumel, alles, was ich früher wollte.

Früher wollte ich einen Roman schreiben über Engel – mit dir zusammen übrigens, deinen Träumen und Vorstellungen, und meinem Gefühl für dramaturgisch effektvoll gesteigerte Textcollagen. Zusammen sollten wir das Buch schreiben, das die Menschen den Engeln gleich machen soll. Doch all diese Pläne versinken im Ozean der Sinnlosigkeit. Nichts ist wichtig, nur daß ich von dir träume und dabei nichts versäume ...

Die Wirklichkeit verschmolz mit meinem Leben zu einer netten Nebenerscheinung hinter der farbigen, duftenden und sinnlichen Welt deines schlanken, kleinen, weichen, goldenen Körpers auf dem meinen, deiner leuchtenden grünblauen Augen nahe den meinen, deiner zarten Lippen auf den meinen, deiner zärtlichen Hände mit den meinen, deiner liebevollen Worte. Es wird keine Sekunde mehr geben ohne dieses Glücksgefühl. Von jetzt an wird kein Tag sein wie der andere ... ”

Jan konnte nicht weiterlesen – dieser Brief, den er in den Händen hielt, war siebzehn Jahre alt, so alt, wie er selber gewesen war, als er ihn bekommen hatte. Seit zehn Jahren hatte Jan nichts mehr von Philipp gehört, der irgendwo in München lebte, und er hatte auch nur noch eine Telefonnummer von ihm, die längst nicht mehr stimmte. Vielleicht die Auskunft, aber ....... aber das war ein So Großes und inzwischen auch trauriges ABER. Nach so vielen Jahren.

Immerhin war es Jan gewesen, der Philipp verlassen hatte, und das wegen Tobias, dem bezauberndsten Pfarrerssohn von ganz Ottensoos, der ihm fünf Wochen später gesagt hatte, er ginge jetzt mit Malte aus der Würzburger Jugendgruppe. Und so war alles weitergegangen, von einem melodramatischen Liebesroman zum nächsten.

Kein Tag wie der andere, so war ihr Motto gewesen. Inzwischen war jeder Tag wie der andere – keine Abwechslung, keine Höhen und Tiefen, nur eine seit Jahren währende Zufriedenheit, die von Tag zu Tag unerträglicher wurde. Jan kompensierte diese Frustration durch übermäßigen Genuß von Schokoriegeln und qualitativ äußerst bemängelnswerten Käsecroissants, die es an jedem dritten U-Bahnhof zu kaufen gibt. Und er haßte sich, weil er fetter und fetter wurde, während er hemmungslos schlemmte, wenn er sich wohl fühlte, bzw. damit er sich wohlfühlen konnte.

Der Berliner Winter ist die Zeit des Jahres, in der es sich wirklich zu leben lohnt in dieser Stadt. Jan sagte dies nicht aus Masochismus, weil er Vergnügen empfand, irgendwo eine halbe Stunde auf den Nachtbus zu warten, und dann noch mal anderswo eine Viertelstunde auf den Umsteiger – sondern weil sich seine Persönlichkeit in jenen Momenten der unglaublichen Kälte auf ungeahnteste Weise entfaltete. Sinfonien wurden komponiert in diesen herrlich existentialistischen, einsamen Nachtstunden, Spielfilme inszeniert, Romane geschrieben - alles nur in der vergänglichen Schönheit gedachter und wieder verflogener Gedanken ... Werke, die von seltsamer Schönheit sind, weil sie den Existentialismus und das Wunderbare des Lebens in sich symbolisch verinnerlichbar machen, mit der Klarheit des Sternenhimmels, der im Sommer stets dunkelbraun verklärt ist über dem schmutzigen Berlin ... Außerdem verflogen die Gestänke des Sommers in dieser herrlich klaren, kalten Luft.

Erst war Jan am Montag, den 14. Februar 2000, krank geworden, so daß er nicht zur Arbeit gehen konnte, dies hatte er so genossen, daß er sich zur Erholung sieben Filme hintereinander auf der Berlinale ansah, dann war er seit ewigen Zeiten mal wieder auf einer Party gewesen bei seinem besten Freund Ratte, seiner ewigen Haßliebe, hatte am selben Nacht einen LSD-Trip genommen und Robby kennengelernt, den schnuckeligsten Skinhead der Welt, durch die Zunge gepierct und woanders auch, Jan wußte später nicht mehr alles davon ... Robby sah so aus wie der Typ in Boxershorts und Springerstiefeln von der SIEGESSÄULE-Weihnachtspostkarte, der fragt “Gibt’s Geschenke!” Nein, er war der Typ von der Postkarte!

Kalamaria und Günther – das katastrophale, infernale alle melodramatisch-tragischen Liebesszenen übertreffende in ewiger Abhängigkeit nicht voneinander loskommende Heteropärchen waren auch auf der Party (Klammer auf: den mit unerotischen Seefahrertätowierungen übersäten Günther verschlägt es mit erschreckender Regelmäßigkeit in Saunen und Darkrooms der Stadt, während die stets überkandidelte und nie exaltiert-sexistisch genug gekleidete Kalamaria auf jeder Technoparty im Ostgut mit irgend‘nem Typen auf dem Klo verschwindet. Zuhause schwärmt sie von Rondo Veneziano und ihrem shetlandponygroßen Dalmatiner namens Trotzki. Klammer zu). Sieben Trennungsdramen zwischen Günther und Kalamaria hatten Jan und Ratte nun schon durchgemacht – und bei jeder neuen, glücklichen Wiedervereinigung knirschten sie mehr und mehr mit den Zähnen.

Auf Rattes Party hingegen verlief alles zivilisiert. Zunächst ein Fünf-Gänge-Menü. (Champagner, Hirschbraten, eine Mousse au Chocolat, alles, was so dazu gehört. Es gab eben diesen Grund, warum Jan Ratte immer noch liebte, und das, nachdem sie sich vor sieben Jahren in Toulouse äußerst dramatisch voneinander getrennt hatten: Ratte blieb stets originell und stilvoll zugleich ... Irgendwann jedoch grölten Ratte und Kalamaria hemmungslos mit bei ”Skandal im Sperrbezirk”, bis auf Ecstasydealer Ottokar, welcher aus Indigniertheit über dieses grobschlächtige Proletarierverhalten Ratte eine Suppenterrine an den Kopf schleuderte. Später ließ er etwas erstaunt verlautbaren: ”Ich weiß gar nicht, was über mich kam!” Jan wehrte sich mit unglaublicher Vehemenz gegen die Feststellung, daß es nur ein gutes Lied von David Bowie gäbe. In Wirklichkeit seien es unfaßbar viele.

Irgendwann lag ein unglaublich fetter Skinhead namens Lumpi nackt schnarchend auf dem Biedermeiersofa. Jan und Robby hingegen lagen zu diesem Zeitpunkt schon allein in Rattes Bett. Kurz bevor sie den gemeinsamen LSD-Trip genommen hatten, da war eine Ebene des gegenseitigen Verstehens und der Vertrautheit entstanden. ”Ich kann diese Wirklichkeit nur mit Drogen ertragen”, hatte Jan gesagt – sicherlich ein nicht ganz korrekter Satz, da er seit Jahren berufstätig war und sein Sekretärsdasein ohne Drogen trotzdem einigermaßen zufrieden verlief. Aber was heißt das schon – zufrieden. ”Glücklich” wollte Jan sein. Glücklich so wie früher, als er den Brief von Philipp bekommen hatte. Und auch Robby wollte ”glücklich” sein. Mit vierzehn Jahren war er, so erzählte er zumindest, auf den Strich gegangen am Bahnhof Zoo – und Jan liebte ihn sofort, als er dies gesagt hatte – Jan liebte die verwahrlosten Seelen der Jugend, die sich jeden inneren Halt versagten und ihr Leben hemmungslos auslebten, um jeden Preis, und nur mit LSD war das Leben schön und erträglich für sie. Konnte es etwas Schöneres geben als diese Gleichzeitigkeit von Surrealismus und dem Gefühl der körperlichen Sinnlichkeiten, die Einheit von ästhetischer Stilisierung und Spontaneität – die Symbiose von Gewalt und Pazifismus... Wieder zwei Engel sein, die beieinander liegen, in Ekstase schwelgend.

Als sie fertig waren, meinte Robby irgendwann: ”Ich glaube, das wird nichts mit uns beiden.” Und das war es. Die Party des Jahrtausends war zu Ende.

 



 

Bald war Robby unten durch bei allen. Angeblich war er einer von diesen durchgeknallten Typen, die nur ständig Drogen nehmen und auf Parties gehen, jedoch ansonsten in ihrem Verhalten sehr unzuverlässig sind und nicht mit Menschen umgehen wollen, sondern sie bloß ausnutzen. Eine richtige kleine Schlampe, dieser Robby. Und Jan wußte trotzdem, daß er ihn vergötterte, gerade, weil er so verrückt war. Er sehnte sich nach ihm.

Jedoch, weil er unten durch war bei allen, sah Jan ihn nie wieder – allerdings hatte er sich Robbys Adresse bei Ratte heimlich von einem Zettel abgeschrieben, Rigaer Straße 7. Jedoch als er ihn besuchen wollte, fand sich dort, wo das Haus hätte sein müssen, überhaupt nichts außer einem verwilderten Grundstück. Jan fand das stimmungsvoll und passend. Jetzt hatte er noch die Telefonnummer, aber Robby wohnte angeblich bei seinen Eltern. Ein dreiviertel Jahr lang rief Jan nicht an. Jetzt lohnte es auch nicht mehr.

Jan wanderte einsam durch die Straßen, still und fremdartig fühlte sich alles an. Hinter manchen Fenstern dunkles, blaues Flimmern. Aus Cafés und Kneipen drang Musik. Alle waren betrunken, es gab keinen Menschen in dieser Stadt, der sich um Jan Gedanken machte. Alle hatten zuviel mit sich selbst zu tun. Was für eine Kälte, mit der wir Menschen uns umgeben, dachte Jan ... Nur die polierte Oberfläche zählt ... Die Leute sehen sich nicht an. Würden sie es tun, wären sie aufdringlich, weil sie dich nicht in Ruhe lassen. Menschlichkeit ist schwer zu finden in dieser Stadt.

Jan dachte: Wie kann ich überleben in dieser Stadt – oh well, nur wenn ich es will. In dieser Welt voller Gewalt und Gemeinheiten werde ich nicht vergehen. You gotta keep an open mind. Hab’ dein Herz offen für diese Welt ... Und laß dich nicht in den Abgrund fallen. Er dachte es so oft, immer wieder, aber wie schwer war das manchmal ... Wie Schatten, die auf die Seele fallen, vergingen manchmal Tage, in denen er nicht nachdachte, und wenn er mit seinem Namen irgendwas unterschrieb, dann fragte er sich gelegentlich, was das war, diese Person, JAN WOLFSMILCH, ja früher mal ein fröhlicher Junge mit viel Sonne im Herzen, wie Jan von Nebenan, schon so lange nicht mehr...

Gott beschützt dich, versprachen ihm die Leute, die gelegentlich vorbeikamen oder am Jahrmarkt schlechte Musik machten, er lächelte milde. Er war weiterhin auf dem richtigen Weg, soviel wußte er noch. Es gab in ihm die Stimme, die ”JA” oder ”NEIN!” sagte. Er hatte noch die Kontrolle über sich und sein Leben. Er würde sein Leben nicht wegwerfen, im Gegensatz zu all den Leuten, die Jan gerne noch um sich hätte, die er vermißte wie nichts auf der Welt.

”Oh ich weiß, meine Eltern werden immer zu mir stehen, wenn ich in einer kritischen Phase bin, weil sie mich lieben und ich bin bei ihnen willkommen bin. Es macht mein Leben leichter, weil ich so mit den Dingen besser klarkomme.” Manchmal, wenn er das sagte, war ihm gleichzeitig zum Platzen zumute, er wollte schreien vor innerer Zerrissenheit. Was hieß das schon, wenn man niemanden im Leben hat außer den Eltern?

Es war Zeit, zum Weihnachtsfest zu gehen. Schon 1923 hatte Emil Szyttia geschrieben: ”Die Homosexuellen haben eine große Vorliebe für Weihnachten. Am heiligen Abend werden diese ausgestoßenen Menschen sehr sentimental, die ganze Traurigkeit ihres Lebens kommt ihnen zum Bewußtsein, und das Café Mikado hat jahrelang an jedem Weihnachten Feste arrangiert, wo unter dem Weihnachtsbaum Herren in Damenkleidern religiöse Lieder sangen.”

 



 

Bei Ratte Zuhause waren Kalamaria, Günther und Ottokar, dazu exquisite Weihnachtsplätzchen, Kipfel, Zimtsterne und kleine Pralinés. Ein Rehbraten brutzelte im Ofen, für Jan gab es ausnahmsweise sogar eine vegetarische Sauce zum Broccoli, und nicht nur die Brühe aus dem Fleischtopf. Jan schenkte Ratte ein Buch von Jean-Paul Sartre ”Die Kritik der dialektischen Vernunft”. Jan schenkte Kalamaria einen Spiegel, der in einen blauen Holzmond eingefaßt war. Ratte schenkte Jan ein Glas selbstgemachter Karottenmarmelade, die ganz leicht mit Cardamom gewürzt war.

Später stand Ratte neben dem Baum dann und spielte auf seiner alten Trompete, früher war er Bläser im Klagenfurter Blasorchester gewesen und hatte einmal voller Stolz ein Stück von Tomasso Albinoni ohne Fehler gespielt. Dies liegt dreizehn Jahre zurück, aber es reicht heute noch immer für ein Weihnachtslied. Jan war glücklich über diese absurden, unsentimentalen Beglückungen. Irgendwann dachte er: ”Was soll’s”, sagte zu Ratte ”Ich muß mal bei dir telefonieren” und wählte die Nummer. Hallo. Ist Robby da? Hier ist Jan, ein Freund von Robby. Ja, ich bin’s, Jan, jaja, der Jan, wunder dich nicht. Mir ist gerade so nach dir zumute, wenn ich dich nicht störe ... Gibt’s Geschenke? ... Ja klar kenne ich die, die heb‘ ich auf ... Ich wollte nur sagen, laß dich nicht unterkriegen und feier‘ noch schön .... Ja, und laß uns doch mal ausgehen zusammen, OK? Ich lad' dich ein .... Wir müssen ja nicht gleich heiraten ... OK ? ... Ja prima, dann rufe ich dich an ... Ja ... Mach’s gut ... Ja ... Du bist auch ein Schatz.” Nachdem Jan den Hörer aufgelegt hatte, durchtoste ihn ein brandender Aufruhr, und er dachte wie aus heiterem Himmel an Philipps Brief. Kein Tag soll sein wie der andere, hörte er ihn in Gedanken sagen, und er dachte ”Morgen rufe ich die Auskunft an. Ich mache es wirklich”. Ach Philipp, dachte er noch, leise, nur für sich alleine, dann kehrte er zurück zu den anderen ...

 
 
 

Berlin, 22. Dezember 2000
 

© Daniel Emerson Aldridge

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