Die Möbius-Diffraktion
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Kurz
vor Erreichen der Heimatgalaxis kam die
PANDORA noch einmal zum Stillstand. Die
Sterne der Milchstraße erstrahlten in ihrer
prachtvollen Gesamtheit auf dem
Panoramabildschirm der Kommandozentrale, in
der sich Orin Tadschuriath gerade mit Prinz
Midja, dem Xandyrier Pylades und Lukâs
Kazimierz beriet.
Das
SPHÄRENORPHIUM war in vollem Gang zu einer
letzten Besprechung. Orin erklärte: „Wir
müssen uns aber nun entscheiden, welchen Ort
wir in unserer Galaxis anfliegen werden -
immerhin wird uns hier eine von 71
verschiedenen möglichen Situationen des
Zeitkrieges erwarten.“ – „Die Besatzung
steht kurz vor einer Meuterei, weil wir
nicht weiterfliegen“, grinste Lukâs,
allerdings leicht wehmütig - die Variationen
der bevorstehenden Auseinandersetzungen
boten allgemein keinen Ausblick auf eine
friedliche Lösung des temporalen Konflikts.
„Außerdem gibt es keine Frage, wohin
wir uns wenden: nach Létheios!“ Lukâs sagte
dies mit einer überraschenden
Entschiedenheit, und es schien, als würde er
von diesem Standpunkt nunmehr nicht mehr
abrücken.
Pylades
blickte den Celaenoiden skeptisch an. „Ich
möchte zu bedenken geben, dass bereits in
kürzester Zeit auch die Weltraumschlacht im
SOL-System beginnen könnte. Warum fliegen
wir nicht dorthin?“ wollte er wissen. „Das
halte ich für viel zu gefährlich. Wir kennen
die dortige Lage nicht. Ein Flug ins
SOL-System kann unvorhersehbare Folgen
haben“, erklärte Prinz Midja. „Genau das ist
meine Einstellung“, sagte Lukâs, dankbar für
die Unterstützung durch den Gargantuan.
„Also ist es beschlossen, wir fliegen
Létheios an!“ Orin Tadschuriath brachte mit
seiner Schwingung den entscheidenden Stein
ins Rollen. Pylades ließ einen kurzen
xandyrischen Klang (ein helles, kaum
vermerkliches Schwingen der Moleküle)
mit Überschall ertönen, welcher seinen
Unwillen zum Ausdruck brachte, doch war ihm
klar, dass eine weitere Diskussion nichts
ändern sollte.
Das
SPHÄRENORPHIUM war ein unsichtbarer
Bestandteil ihres sachlich-objektiven
Gremiums. Es war wie ein intuitiver
Vorgang, fast könnte man sagen,
Schwingungen zwischen den Noo- und
Thymosphären des humanoiden wie auch
robotoiden Organismus, doch betraf dieser
Vorgang nicht irgendwelche Veränderungen
der Außenwelt sondern stellte lediglich
einen quantenmechanischen Rapport in der
sprachlichen Kommunikation zwischen den
neun Unsterblichen her – eine Technik,
welche der Roboter Ionos seinerzeit von den
Kosmosophen im CHRONOMATERIE-UNIVERSUM
erlernt hatte. Die Weltraummedizinerin
Sadulist hatte im Übrigen den parallelen
Aspekt ans Licht gebracht, dass es sich bei
dem SPHÄRENORPHIUM auch um eine
virtuelle Schnittstelle der Qi-Energien
der Unsterblichen handelte.
Obwohl es
Pylades gelegentlich schwerfiel, sich den
gemeinsamen Worten und Taten des Kollektivs
der neun Unsterblichen anzupassen, so war er
doch jedesmal auf eine seltsame Weise auch
stimuliert und befriedigt, wenn es zu einer
Entscheidung gekommen war und eine
Initiative ergriffen wurde, egal ob sie ihm
eher missfiel oder nicht.
*
Wenig später also
resynchronisierten sich die
Schwingungsmaterie-Modulatoren der PANDORA
erneut mit der sechsdimensionalen
Transversale – und das uralte Raumschiff
erreichte mit dieser ungewöhnlichen und
technisch hochgradigen Antriebsform den
Planeten Létheios, weit im Inneren der
Galaxis, innerhalb weniger Minuten. Ein
Funksignal erreichte sie, und als Midja
seinen Monitor aktivierte, tauchte auf
diesem Arold auf, das frei in der Luft
schwebende Plasmawesen mit den fünf
Tentakeln aus der Zentrumswelt
Vhanaszalrathago. Es hatte zum gegenwärtigen
Zeitpunkt das Kommando über den geheimen
Stützpunkt der Galaktischen Freischaren.
„Prinz Midja, Lukâs, welch bezaubernder
Anblick! Ihr seid zurückgekehrt! Was ist
geschehen?“ rief es überrascht und pulsierte
etwas schneller auf und nieder, während
seine Farbe von dunklem Graugrün in
leuchtendes Purpur wechselte. „Das ist eine
lange Geschichte. Wo sind Baiwel, Irabiah
und Beliarah?“ fragte Lukâs, der umgehend
mit ihnen die Situation erörtern wollte. Ein
merklicher Schatten fiel auf das Purpur. „Es
sind immer lange Geschichten, Lukâs. Baiwel
und ein Chelorier, der zu uns aus der
Zukunft kam und sich uns angeschlossen hat,
greifen momentan mit unserer Flotte das
SOL-System an, während Irabiah, Beliarah
sowie Rollin Corrigan gerade auf der Exogon
Alpha unterwegs sind zu dem Planeten
Makomar, um das dorthin verbannte Volk der
Terraner zu retten“, erklärte das
Plasmawesen unruhig. „Ich weiß nicht, ob ihr
nicht sofort...“ – „Was?!“ entfuhr es
Pylades entsetzt. Arold erschauerte
unwillkürlich. Meine Antwort hat
furchtbare Tatsachen offenbart, die sie
schon ahnten. Ein wesentlich dunkleres
Purpur, fast wieder an der Schwelle zu Grau.
„Das
ist Baiwels Planspiel in der
Möbius-Schleife“, meinte Orin ernst. „Es
wird in einem grauenhaften Desaster enden,
einer Strukturstörung des Raumzeitgefüges in
diesem Sektor, die das SOL-System und alle
anderen Himmelskörper innerhalb der
Orth‘schen Wolke zerstören wird.“ Mit
steigender Unruhe oszillierte Arold in der
Zentrale hin und her. „Ihr habt ein noch
größeres Wissen über unsere Zukunft als
Tholokion Ghuard“, erkannte das
Vhanaszalrathagoidum. „Ja, Arold. Wir trafen
auf eine chelorische Meta-Zivilisation,
Nachkommen von den letzten Cheloriern der
Zeit, welche temporal zurückversetzt wurden
und auf einem geheimen Planeten namens
Zeonarran ihre gesamte Geschichte noch
einmal mitverfolgten. Zwar haben sie uns all
ihr Wissen und all ihre Technologie zur
Verfügung gestellt, jedoch tragen wir
dadurch eine unvorstellbar schwere Bürde.
Wir müssen den jetzigen Ablauf der Dinge
erneut ändern!“ fauchte der gargantuanische
Prinz entschlossen. Seine Chromflügel
blitzten, als sie leicht zitterten wie
Schmetterlingsflügel.
„Also
springen wir in die Vergangenheit zurück um
24 Stunden! Wir halten Baiwel auf und kehren
wieder hierher zurück, dann können wir
wirklich planen!“ rief Lukâs. Pylades
schüttelte fast unmerklich den Kopf,
trotzdem registrierten es die anderen
Unsterblichen. „In dieser Auseinandersetzung
wird ein seltsames Zeitschiff der Chelorier
auftauchen, Lukâs, mit einer omnipotenten
Temporalität. Eines Tages wird es gebaut
werden, und diese Schlacht ist sein erster
Einsatz. Auch wenn wir Baiwels Angriff
verhindern, wird das nichts an der
Entstehung dieses Zeitschiffs ändern. Es
wird auf alle Fälle gebaut werden, und es
wird immer eine furchtbare Begegnung damit
geben, egal wo, wann und wie, die wir nicht
verhindern können. Wir sollten daher in
dieser Chronik verweilen, ins SOL-System
fliegen und uns in den Kampf einschalten.
Wir können Perthaycs ‘Tor der Temporalen
Harmonie‘ aktivieren und unsere Flotte
damit retten, die Möbius-Schleife auflösen
und uns das WEISSE SCHIFF vornehmen. Wir
müssen es auf alle Fälle entweder erobern
oder zerstören.“
Lukâs
Kazimierz starrte ihn durchdringend an. „Ich
hatte bereits gewusst, dass du so etwas
Furchtbares sagen würdest“, murmelte er
unglücklich.
Midja
wandte sich fragend an Orin. „Was sollen wir
tun?“ Der alte Altairaner antwortete nicht;
er hatte die Augen geschlossen und lauschte
in sein Inneres. In seiner Dunkelheit und
Ruhe bemühte er sich, den Impulsstrom der
SILAR-Komponente zu erspüren. Diese
hochmögende Kraft, eine intelligente
Zwischenzone zwischen der vierten und der
fünften Dimension, ließ sich nicht
willentlich von Orin anziehen – sie kam ganz
im Gegenteil nur dann, wenn er keinen
bewussten Gedanken mehr an sie verspürte.
Gelegentlich kam es zu keinem Kontakt, doch
dieses Mal musste er nicht lange warten.
Kaum hatte er sein bewusstes Denken
nullifiziert, durchströmte ihn die SILAR. Es
war - wie stets - ein Gefühl, dass ihn diese
Kraft als einen wichtigen Ankerpunkt im
vierdimensionalen Raum-Zeit-Kontinuum
erachtete. Wie ein unsichtbares, sanftes
elektrisches Prickeln verspürte er nun
diesen Impulsstrom, mit dem er jetzt auch
eine mentale Verbindung eingehen konnte. Wohin
müssen wir gehen? So versuchte er zu
erfahren, an welches Geschehen ihn die
Impulse heran lenken wollten. Schließlich
öffnete er seine Augen wieder. Noch etwas
benommen von dem kurzen Kontakt starrte er
den Xandyrier an. „Pylades hat Recht. Wir
müssen ins SOL-System fliegen und den Kampf
mit dem WEISSEN SCHIFF aufnehmen. Es ist
eine unvermeidliche Angelegenheit... Aber
der SILAR-Strom sieht auch große Trauer
voraus, Midja. Unumgängliches Unglück in
jeder Zukunft, und schreckliche Opfer, die
wir bringen werden.“ Metakosmisches
Pathos, immer erste Sahne für Orin
Tadschuriath. Dachte der Terrabot nur.
Beunruhigt
sahen sich die Menschen in der Zentrale der
PANDORA an. Auch auf Létheios wurde Arold
der Verstörtheit seiner Mitarbeiter gewahr.
Prinz Midja nickte Orin kurz zu und wandte
sich, da die Entscheidung nun gefallen war,
wieder seinen Aufgaben als Exekutivoffizier
zu. „Schalten Sie mich bitte auf die
Lautsprecher!“ sagte er leise zu Sua
Kastori. „Auf Ihr Panel geschaltet, mein
Prinz.“ Der Gargantuan sah kurz zu der
jungen Terranerin, verblüfft über ihre
liebevolle Formulierung, dann ließ er sich
in dem eigens für ihn angefertigten
Spezialsessel nieder und aktivierte seine
Konsole. „Achtung, an alle
Besatzungsmitglieder. Wir werden ins
SOL-System fliegen und in den Kampf in der
Möbius-Schleife eingreifen. Laut der Chronik
des Planeten Zeonarran gelten dort die
Bedingungen der Zeitlinien 4 und 11. Ich
empfehle allen, sich mit dem entsprechenden
Protokoll vertraut zu machen. Außerdem tritt
Notfallprotokoll Ultima in Kraft – nur die
Minimalbesatzung, die
Temporalkonfliktpelotons und die
Unsterblichen fliegen auf diesem Einsatz
mit. Alle anderen Abteilungen werden
umgehend nach Létheios evakuiert. Vorrangig
aber bitte ich nun alle, die sich eventuell
als Freiwillige melden möchten, bei ihrer
Entscheidung auch zu bedenken, dass es hier
nicht um Mut oder Feigheit geht, sondern um
das, was ich in dieser Krise als die
Wichtigkeit des Unterschiedes
schlechthin bezeichnen würde. Jeder von uns
verdient nicht nur die höchste Chance des
Überlebens, sondern benötigen wir auch die
Erfahrung jedes einzelnen auf Létheios.
Vergessen Sie also bitte den etwaigen
Idolstatus meiner Person oder der anderen
Unsterblichen und treffen Sie diese
Entscheidung nur für sich, kraft der
Redlichkeit Ihres eigenen Gewissens – ich
danke Ihnen. Die PANDORA startet in genau
einer halben Stunde ab jetzt. Ende der
Durchsage.“ Er drückte den Counter an seinem
Panel, und die Zeitanzeige zum Start
leuchtete an verschiedenen Monitoren in der
Zentrale und überall im Schiff auf.
Nachdem
er abgeschaltet hatte, wandte er sich wieder
an Arold, der noch immer auf dem
Hauptbildschirm zu sehen war und die
Ansprache mitverfolgt hatte. „Wir werden
euch zusätzlich mit den Evakuierten einen
Transporter mit allen wichtigen Unterlagen
sowie einigen Spezialvorrichtungen
schicken.“ – „Schon wieder eine Umrüstung“,
ertönte Arolds Stimme voll gutmütigen
Spotts, während die Farbe seiner
plasmatischen Erscheinung in ein glühendes
Rot wechselte, und Midja grinste. „Dies
dürfte die letzte sein, so oder so. Bis
dann!“ Arold deaktivierte die Verbindung.
Midja erhob sich plötzlich und ging zu Lukâs
hinüber, der sich an seine Computerkonsole
gesetzt hatte und auf die Masse an
Datenströmen starrte, die er nach Létheios
transmittierte, ohne sie richtig
wahrzunehmen. „Was für ein Irrsinn! Diese
zunehmende Labilität der Grenzstrukturen
zwischen den Zeitebenen!“ flüsterte er vor
sich hin und wiederholte es noch einmal...
„Lukâs“, sprach Midja sanft, seine Stimme
bebte. Erstaunt blickte der andere auf;
selten hörte er seinen Freund in diesem
Tonfall sprechen, welcher so offen von
seiner verletzlichen und empfindsamen Art
kündete. "Wenn wir einmal von der
unmittelbaren Krise absehen, droht uns auch
ganz generell auf interstellarer Ebene eine
Auflösung der Raum-Zeit-Struktur. Die ersten
Auswirkungen der Dysästhesie-Effekte auf die
Welt unserer Sinne können wir jetzt schon
spüren!" sagte Lukâs trotzdem, da er seinen
Gedankengang noch ausführen wollte. „Ich
möchte, dass du nach Qv‘l’rphaere fliegst“,
eröffnete ihm Midja aber direkt, anstatt auf
die geäußerten Aspekte des weit
fortgeschrittenen Zeitkrieges einzugehen.
„Was redest du da? Ich komme mit euch mit!“
rief der Celaenoide beherzt aus. „Bitte,
Lukâs. Es würde mir sehr viel bedeuten.
Pylades kann ich schon nicht davon abhalten,
und Orin muss diesen Einsatz befehligen.
Nimm die Chaosbande und bring‘ sie nach
Qv’l’rphaere; und du musst auch dort bleiben
und dich um sie kümmern, sonst kann ich
diesen Flug nicht unternehmen. Vielleicht
kannst du ja die metapsionische Säule auf
der Insel L’Tekrathe überprüfen - es könnte
immerhin sein, dass uns Athanakreon doch
noch eine Nachricht zukommen lassen wird.“
Lukâs
schwieg einen Moment versonnen, dann schwang
er sich elegant aus seinem Sitz und umarmte
Midja. „Nun denn, dann lasse ich dich
alleine fliegen. Aber nur unter der
Bedingung, dass die Kohärenz der
Wirklichkeit erhalten bleibt! Dafür bist du
jetzt mir gegenüber verantwortlich“,
flüsterte er ihm ins Ohr. „Sonst springe ich
in die Vergangenheit zurück und verhindere
meine eigene Geburt!“ – „Ich hoffe, dass
sich alles ganz anders entwickelt. Wir
werden sehr bald den letzten Zeitsprung
durchgeführt haben!“ Midja versuchte zu
grinsen, was misslang, und sah seinem Freund
nach, wie dieser die Zentrale verließ. Kurze
Zeit später verließen einige Transportfähren
mit Lukâs Kazimierz, Kiana Dagaha, Xiboi,
Caen, Prysma sowie vielen anderen
Besatzungsmitgliedern die PANDORA und flogen
nach Qv’l’rphaere bzw. hinunter auf die
Oberfläche des Létheios. Die
Minimalbesatzung und einige der verwegeneren
Raumfahrer waren an Bord geblieben. Sadulist
starrte den Fähren nach, bis sie in der
Atmosphäre bzw. im All verschwunden waren.
Die Weltraummedizinerin wäre lieber mit der
Chaosbande gegangen, doch nichts und niemand
konnte sie in diesen leicht verwundbaren
Momenten von Midjas Seite fernhalten, auch
weil sie wusste, wie sehr er ihre Gegenwart
auf diesem Flug benötigte... Während die
PANDORA erneut auf Fahrt ging, fanden sich
ihre Blicke, als sie es beide spürten - der
dritte Quirkfaktor ihrer beider
Thymosphären begann erneut zu pulsieren…
*
Während des Fluges
überprüften Pylades und Orin noch einmal die
neu installierten Anlagen. „Dieses ‘Tor
der Temporalen Harmonie‘ ist extrem
wichtig. Die Zeitverzerrungen bei dem Kampf
im SOL-System werden die Struktur unseres
Kontinuums dermaßen beanspruchen, dass eine
chronasthenische Zone entstehen wird. Doch
wenn wir diese Anlage aktivieren, können wir
vielleicht Ordnung in das Chaos bringen und
eine optimale, stabile Temporalität
wiederherstellen“, meinte Pylades. „Ich
würde mich nur nicht zu sehr darauf
verlassen, dass sie überhaupt funktioniert.
Seit Urzeiten stand sie auf Zeonarran, und
sie ist noch niemals in Benutzung gewesen –
ein reiner Prototyp!“ zweifelte Orin.
Pylades schmunzelte. „Heute ist der Tag, an
dem wir sie einsetzen werden. Und so wie ich
Perthayc kenne, hat er sie dementsprechend
konstruiert, dass sie genau heute optimal
funktionieren wird.“ Orin sah ihn prüfend an
und konnte seinen Optimismus keineswegs
teilen.
*
Inzwischen hatte sich Baiwel
Fjodorow mit seiner Streitmacht in das Jahr
3453 der terranischen Zeitrechnung begeben,
und die heterogene Flotte aus allen
möglichen Schiffstypen der unterschiedlichen
Zivilisationen der siebten Galaxis näherte
sich dem SOL-System. Baiwel aktivierte
Kommunikationskanal Hermes, den
automatischen Chiffrier-Polyangulator
zwischen sämtlichen Schiffen der Flotte. „An
alle Schiffe der Flotte, hier Fjodorow. Wir
werden in zehn Minuten unser Zielgebiet
erreicht haben. Sie alle sind über die
Strategie informiert, aber ich wiederhole
trotzdem noch einmal die wichtigsten Punkte.
Phase Eins: Scheinangriff auf die Chelorier
im Moment ihres ersten Erscheinens in
wenigen Minuten. Phase Zwei: Transfer in die
Zukunft des Jahres 7504 altairanischer
Zeitrechnung mit Angriff auf die dortige
chelorische Wachflotte – dann Aktivierung
der ersten Verzerrung der Temporalen
Synchronizität und sofortiger Abzug. Phase
Drei: Die Chelorier von 7504 orten unser
Erscheinen im Jahr 3453 und folgen uns zu
diesem Zeitpunkt, wo wir sie bereits
erwarten werden. Phase Vier: Zweite
Verzerrung der Temporalen Synchronizität und
Eintritt in die Zeitschleife. Wenn es
klappt, werden wir so oft als unsere eigene
Verstärkung auftauchen, dass wir die
Wachflotte zerstören, ohne dass sie Hilfe
von sich selbst oder einer anderen
chelorischen Flotte erhalten können. Die
DELTA GÓNGORA sendet ab jetzt ein
Override-Signal für sich, damit in jeder
Zeitschleife klar ist, welches Flaggschiff
den Oberbefehl hat. Sehr wahrscheinlich wird
es eine ganze Menge von Ausgaben dieses
Flaggschiffs geben... Ich habe keine Ahnung,
was mit uns geschehen wird, aber unser
eigenes Schicksal ist nebensächlich. Wir
müssen diese Wachflotte zerstören und dafür
auch alle Paradoxa der Unendlichkeit in Kauf
nehmen. Baiwel Fjodorow Aus.“ Der mächtige
Deltoidodekaeder war gefechtsbereit, und
Hal-Ko-Trun saß am 3D-Zyklotron-Kampfstand.
Noch vor wenigen Stunden hatte sich der
Ciguyser mit Baiwel über die eigenwillige
Evolution seines Volkes unterhalten und
darüber, was wohl der kosmische Sinn eines
haarlosen tiefblauen Körpers mit drei Armen
und sechsfingrigen Händen sowie einem
Kugelkopf sein sollte, welcher keine
Sinnesorgane besaß - abgesehen von einer
ausfahrbaren Antenne mit dreidimensionalen
Seh-, Hör- und Riechsinnen von unglaublichem
Feingefühl, nicht zu vergessen die nach
außen hin nicht sichtbare Membran zur
Erzeugung von Sprache und anderen Signalen
im Ultraschallbereich. Einst hatten die
Ciguyser Flügel besessen, jetzt waren diese
nur noch rudimentär als Stummel erkennbar.
Die Vorteile seines dreidimensionalen Sicht-
und Aktionsfeldes lagen allerdings auf der
Hand, daher hatte Baiwel es nur allzu
einleuchtend gefunden, den
3D-Zyklotron-Kampfstand mit dem Ciguyser zu
bemannen. Die Ciguyser konnten extrem
schnell reagieren und waren immerhin
einstmals sehr aggressive Feinde der
Östlichen Welten gewesen, allerdings gab es
nicht mehr sehr viele von ihrer Art.
Hal-Ko-Trun spürte bereits die Instinkte in
sich, die ihn zu wildem Kampf drängten.
Das
SOL-System hingegen sah so friedlich aus wie
selten. Es war das erste Mal, dass Baiwel
die Gelegenheit bekam, einen Blick auf die
Erde zu werfen, wie sie vor ihrem
zehntausend Jahre langen Nebelschlaf
ausgesehen hatte.
Riesige
zerklüftete Wüsten, wo es früher Meere
gegeben hatte und wo es sie später auch
wieder geben würde. Gewaltige grauschwarze
Wolken bedeckten den ganzen Planeten, ein
Energieschild lag um die Erde, um
gefährliche Strahlungen zu neutralisieren –
eine Abwehrfunktion, zu der die geschwächte
Atmosphäre längst nicht mehr fähig war...
Die Flotte formierte sich im Orbit von Luna,
dem terranischen Mond. „Wie viel Zeit bleibt
uns bis zum Auftauchen der Chelorier?“
fragte Baiwel. „Die Chelorier werden in drei
Minuten auftauchen, der Schwarze Nebel in
sieben Minuten“, antwortete Tholokion
Ghuard, der für diesen Angriff Asera Ghors
Schiff flog, die QUINOQUU, die direkt unter
der DELTA GÓNGORA kurvte. „Das gibt uns vier
Minuten Zeit für den Scheinangriff...“
murmelte Baiwel. „Also dann, Tholokion.
Nehmen Sie Ihre Position ein.“ Das
biologische Raumschiff schwenkte aus dem
Verband aus und begab sich auf den Weg zur
dunklen Seite des Mondes, um dort im
Ortungsschatten zu warten. In diesem Moment
entdeckte Hal-Ko-Trun eine Reihe von
Flugkörpern, die aus der Atmosphäre der Erde
aufstiegen und den Energieschild
durchbrachen. „Terranische Raumaufklärer
nähern sich uns!“ – „Senden Sie auf
hochgalaktisch den Code Perthaycs, und sie
sollen sich sofort zurückziehen“, wies
Baiwel seinen Kommunikationsoffizier an und
hoffte, dass die Terraner auch in dieser
Epoche ihrem Ruf als galaktische
Sofortumdenker gerecht werden würden.
Tatsächlich eilten die Kreuzer ziemlich
schnell wieder zurück und tauchten unter den
Energieschild. „So ist es gut!“ murmelte
Baiwel leise für sich, erleichtert, dass die
Terraner ihm ausnahmsweise keine
Schwierigkeiten bei der Ausführung eines
Plans bereiten würden. Dann rief er laut:
„Noch 30 Sekunden bis zum Auftauchen der
Chelorier! In 20 Sekunden Feuer eröffnen!
Und - wie gesagt - auf keinen Fall ihr
Kommando-Schiff oder das Schiff von Asera
Ghor treffen!“
Entschlossen
starrte er auf den Bildschirm, der im
Augenblick nur die Sterne zeigte. „Eine
kleine Überraschung, diesmal aber für
euch...“ flüsterte er. Die Schiffe seiner
Flotte eröffneten das Feuer.
Transplosionsblitzkugeln spien ins Nichts,
scheinbar ohne Sinn und Verstand abgefeuert.
Im nächsten Augenblick brach das Chaos los.
Zehntausend Schiffe der Chelorier – eine
gewaltige Übermacht im Gegensatz zu Baiwels
Flotte – materialisierten sich aus dem
Nichts. An den vorher genau berechneten
Koordinaten konnten in diesem Augenblick
sofort dreihundert Schiffe getroffen werden,
die auch allesamt transplodierten! Die
Chelorier waren viel zu überrascht, um
gleich reagieren zu können. Die
Weltraumkreuzer von Létheios lösten ihre
Formationen auf und stürzten sich in den
Kampf – die Koordinaten der nächstliegenden
Ziele waren ebenfalls vorherberechnet
worden, und viele der Chelorier hatten nur
geringfügig ihre Position verändern können.
Es gab weitere Volltreffer, bei denen die
Schiffe des Feindes sich in dunkelgrüne
Kugelsphären verwandelten, welche sich im
Folgenden ganz allmählich auflösten und im
Zustand der temporalen Stasis gleichzeitig
in der eudämonischen Zwischenzone
eingebettet wurden. Durch diese sog.
Transplosion hoffte man seitens der
Galaktischen Freischaren, die Chelorier dem
Gedankengut der kosmischen Illumination und
ihrem Plan des "Cosmic Enhancement"
doch endlich zugänglich machen zu können.
Doch die verbliebenen
Chelorier waren nun endgültig in Bewegung
und hatten ihre festen Positionen verlassen.
Ihre vorher berechneten Flugbahnen
entsprachen spätestens ab diesem Augenblick
keinem bekannten Zeitablauf mehr und konnten
somit nicht länger in Betracht gezogen
werden. Die DELTA GÓNGORA wich einigen
sonderbaren Strahlen aus und feuerte mit
konventionellen Laserkanonen auf die
Kommando-Mamova, ohne sie jedoch
manövrierunfähig zu machen. Die Chelorier
hatten sich inzwischen zu einem geballten
Angriff formiert und schossen mit allen
verfügbaren Metagravitationstorpedos auf die
Angreifer. Das erste Schiff von Létheios
wurde in ein Miniatur-Black-Hole verwandelt,
gleich darauf folgte ein zweites. Der
entropische Grundgedanke der chelorischen
Mentalität stand schließlich im krassen
Gegensatz zur illuminierenden Philosophie
ihrer Feinde.
Die
Tatsache, dass diese zahlenmäßig extrem
unterlegen waren, begann sich inzwischen
bemerkbar zu machen. Zehn Mamovae stürzten
sich von allen Seiten auf die DELTA GÓNGORA,
doch diese war etwas schneller und
manövrierfähiger und raste aus der Falle
heraus. „Noch eine Minute bis zu unserem
Abzug, durchhalten!“ krächzte
Baiwel heiser - unpraktischerweise
versagte dem einstigen Dichtersänger in
Momenten extremer Anspannung stets die
Stimme (doch glich er dies nun durch
entsprechendes Auspegeln des
Volume-Outputs an seiner Konsole aus).
Die Létheiosianer wurden von allen Seiten
bedrängt, und ihre Lage war trotz ihrer
Schnelligkeit aussichtslos geworden.
„Rückzug und Zeittransfer!“ befahl Baiwel
schließlich. Während sich alle Schiffe
zurückzogen und entmaterialisierten,
steuerte Tholokion sein Schiff nun zur
Stätte der gerade zu Ende gehenden
Blitzschlacht und aktivierte sein eigenes
Identifikationssignal.
Auf
seinem Monitor erschien ein wesentlich
jüngerer Tholokion Ghuard, leicht verletzt,
wohl von einem Schaden in seiner Zentrale,
aber ansonsten unbeeinträchtigt. Hatte er
vorher schon verwirrt und schockiert
ausgesehen, so änderte sich jetzt sein
Gesichtsausdruck zu absoluter Verblüffung,
und sein Rüssel rotierte unkontrolliert.
„Was...“ begann er. „Du siehst ganz richtig,
Tholokion. Ich bin aus der Zukunft gekommen,
genauer gesagt, ich folgte dieser Flotte aus
der Zukunft hierher.“ Der Chelorier nahm
einen Metallkörper aus seiner Tasche und
betätigte einen der drei kleinen Schalter
daran. „Dies ist ein temporaler
Kommando-Override: In wenigen Augenblicken
wird hier der Schwarze Nebel auftauchen, um
unserer Zivilisation zur Apotheose ihres
Daseins zu verhelfen. Folge seinem Ruf und
vertraue ihm. Ich werde inzwischen in die
Zukunft zurückkehren und dafür sorgen, dass
diese Angreifer niemals die Gelegenheit
bekommen werden, überhaupt hierher zu
fliegen. Dieser Angriff auf euch wird dann
niemals stattgefunden haben. Akzeptierst du
diese Direktive?“ Der jüngere Tholokion
Ghuard fasste sich allmählich wieder, als er
den gleichen Gegenstand in seiner Hand
betrachtete, der ihm das Signal des
Identitäts-Imperativs übermittelte. Bislang
hatte er diesen Fall nur in der Theorie
gekannt - in der Praxis war damit ein viel
stärkeres Gefühl verbunden. Es war eine
seltsame Empfindung, eine von absolutem
Vertrauen in diese Person, die sein
zukünftiges Selbst darstellte. „Ja sicher.
Wir werden so vorgehen...“ Er verstummte,
weil plötzlich etwas Seltsames in ihm
vorging.
Auch
der ältere Tholokion Ghuard erschauerte. Es
war, als durchzöge ein schauriger Geruch den
Raum, und er begriff... Um die Flotte der
Chelorier herum materialisierten die dunklen
poststellarmateriellen Schwaden des
Schwarzen Nebels. „Eure Nebulosität“,
flüsterte der ältere Tholokion Ghuard
ehrfürchtig. Es war ungewöhnlich, wie ruhig
er sich bislang dabei vorgekommen war, so
als glaubte er tatsächlich an die Dinge, die
er sagte, doch nun wurde er unruhig. Der
Schwarze Nebel war früher gekommen als
erwartet. „Tholokion Ghuard. Er scheint ganz
das aberwitzige Wesen zu sein, für das wir
ihn immer gehalten haben. Seine Anwesenheit
hier deutet aber darauf hin, dass wir Erfolg
haben werden - oder hatten“, ertönte eine
unheimliche, leise Stimme in seinen
Gedanken. Er hatte diese Stimme seit sehr
langer Zeit nicht mehr gehört. „Ja, eure
Nebulosität. Der Plan ist perfekt; Ihr müsst
so handeln wie Ihr es vorhabt – die
humanoiden Zivilisationen der Galaxis sind
so gut wie euer Eigen“, keuchte Tholokion
heftig. „Der gerade auf die Chelorier
erfolgte Angriff ist ein Schein-Manöver der
Menschen, um Euch aus dieser Zeit
wegzulocken, doch ich werde diese Zeitlinie
jetzt wieder verlassen, um letzte
Korrekturen durchzuführen. Dieser Angriff
wird dann nie stattgefunden haben.“ Er
aktivierte jedoch seine Kontrollen nicht –
ein zu abrupter Aufbruch würde den Schwarzen
Nebel misstrauisch machen. Nein, er musste
mit dessen Genehmigung und Vertrauen
aufbrechen. Der Schwarze Nebel war in seinen
Gedanken... Tholokion erschauerte und gab
sich ganz und gar seinem Wahn hin, so dass
er kein Misstrauen erwecken konnte.
Der
Schwarze Nebel lachte schallend. „Dies ist
ein vorzügliches Omen! Und er, Tholokion
Ghuard, wird von uns hoch belohnt, wenn wir
uns wiedersehen.“ – „In zehntausend Jahren,
Eure Nebulosität“, flüsterte der Chelorier
und wirbelte die QUINOQUU in den
Zeitensprung, die erste Angriffsflotte, sein
früheres Selbst und den Schwarzen Nebel
zurücklassend. Erleichtert atmete er auf.
Beinahe hätte er sich wieder der Finsternis
hingegeben - und das war erst der Anfang der
Konfliktschleife gewesen!
*
In der Real-Zeit der
Gegenwart spürte Skiej der Mirlan-Elixarion
an Bord des Kommando-Schiffs der
Nadir-V-Flotte einen heftigen Einbruch in
der Raumzeit-Struktur. „Es scheint, dass
eine kleine Streitmacht der Menschen ins
SOL-System eingedrungen ist bei Faktor Minus
10018 Terra-Jahren!“ informierte es Prors
Chaur. „Sehr unvernünftig!“ lachte der
Kommandant der Nadir-V-Flotte. „Wir werden
sie abschießen, noch bevor sie auftauchen.“
Dann gab er den Befehl an sein Geschwader,
sich zum Angriff und zum Zeittransfer zu
formieren. Gerade als seine Schiffe
Kampfbereitschaft meldeten, zuckten weitere
Strukturschockwellen durch den Raum, und
eine einzelne Mamova beendete ihren
Zeittransfer über der Erde direkt vor der
Nadir-V-Flotte. „Und was ist das jetzt?“
wandte sich Prors Chaur an den
Schiffs-Symbionten, doch ehe Skiej antworten
konnte, traf ein Signal auf der Frequenz des
Obersten Meisters der Zeitsklaven ein. Chaur
ließ den Bildschirm aktivieren und gab einen
kurzen Laut der Überraschung von sich.
„Kommandant Ghuard! Was...“ – „Dies ist ein
temporaler Kommando-Override, Code T'Q.
Prors Chaur, der Angriff auf das SOL-System
bei Faktor Minus 10018 ist ein
Scheinangriff! In Wirklichkeit handelt es
sich um eine letzte Attacke aller
verbliebenen Schiffe des Gegners von Faktor
Plus 21 auf die Erde bei Faktor Plus Zwei,
also im Jahre 7504! Ich befehle Ihnen daher,
sich mit Ihrem Geschwader zu Faktor Plus
Zwei Punkt Drei Strich Vier Neun Null Sieben
zu begeben – dort werden wir an diesem
Zeitpunkt die letzten Überbleibsel der
menschlichen Raumzeit-Streitkräfte ein für
alle Mal eradizieren! Akzeptieren Sie diesen
Temporalen Imperativ, Prors Chaur!“
Der
Angesprochene lieferte das Äquivalent eines
menschlichen Lächelns – er trompetete in
tiefsten Tönen. „Nur zu gern, Kommandant.“ –
„Gut. Folgen Sie mir zu den Zeitkoordinaten
und schalten Sie Ihre taktischen Computer
auf mein Steuersignal – das Feuer wird
sofort nach Beendigung des Transfers
eröffnet, die Abweichung beträgt Minus Fünf
Chelorische Sekunden. Sind Sie bereit?“
Tholokion Ghuard war selten erregter gewesen
als in diesem Moment. Schon wieder glaubte
er an das, was er sagte. Prors Chaur gab
inzwischen die letzten Anweisungen und
meldete dann Transferbereitschaft. Das
Nadir-V-Geschwader und die QUINOQUU
entmaterialisierten und sprangen durch die
Zeit in die Zukunft – um in einem erneuten
Chaos wiederzuerscheinen!
*
Als die Weltraumkreuzer von
Létheios im SOL-System des Jahres 7504
materialisierten, wartete dort bereits die
Nadir-V-Flotte der dortigen Real-Zeit auf
sie, doch damit hatte Baiwel gerechnet. Die
QUINOQUU war aus der Gegenwart eine Stunde
vorher erschienen und hatte die
Kampfcomputer auf falsche Koordinaten
programmiert. Die ersten Salven der
Chelorier trafen kein einziges Schiff...
Baiwel jubelte auf, als das erste
Feindschiff dieser Zeitperiode von
Hal-Ko-Trun unermüdlich in die eudämonische
Zwischenzone transplodiert wurde und
verschwand. Im nächsten Moment raste die
CORSAIRUS VII in den Schussbereich einer
Mamova, traf diese zwar, wurde jedoch
unmittelbar danach in ein
Miniatur-Black-Hole verwandelt. Die Flotte
der Létheiosianer war damit bereits um das
27. Schiff dezimiert worden. Die Mamova, die
den Treffer verursacht hatte, raste nun der
DAEDALON entgegen, doch ein kleinerer
Jagdkreuzer warf sich ihr in den Weg. Sie
kollidierten, und beide endeten in einer
Feuerwolke. „Achtung, Achtung! Das
Nadir-V-Geschwader aus unserer Gegenwart
wird in zehn Sekunden auftauchen!“ meldete
Tholokion Ghuard. Hal-Ko-Trun konnte immer
noch nicht fassen, was gleich geschehen
würde. Bei einem Verhältnis von zwei Flotten
aus insgesamt 1.000 Schiffen gegen 272
schienen die Chancen gefährlich knapp,
selbst in Anbetracht der geplanten
Vervielfältigung der eigenen Streitkraft.
Da
geschah es. Die Chelorier aus der Gegenwart
tauchten auf und schossen – auf ihre eigenen
Schiffe! Gleichzeitig erwischten die
Létheios-Kreuzer etwa 100, die direkt vor
ihren Kanonen aufgetaucht waren. Prors Chaur
und Skiej starrten entsetzt auf das Chaos
und konnten die Natur dieses unerwarteten
Schicksalsschlages nicht begreifen. Der
Elixarion sollte niemals die Gelegenheit
bekommen, die Situation zu durchschauen.
Tholokion Ghuard selber schoss auf ihn zu
und zerstörte seine Mamova mit einem gut
platzierten Antimaterie-Nanotorpedo
(Transplosionstechnik hatte auf seinem
Schiff noch nicht installiert werden
können). Entsetzt begriff Prors Chaur, dass
Ghuard ein Verräter war, als alles um ihn in
Flammen aufging. Kurz schrie er noch auf,
halb vor Wut, während ihn die Feuerwelle
umschlang und verzehrte, die sein ganzes
lebendes Raumschiff durchraste und
auseinanderriss. Brennende Trümmer wirbelten
in alle Richtungen durch die Kampfzone.
Auf
der DELTA GÓNGORA rief Baiwel: „Achtung.
Erste Verzerrung der Temporalen
Synchronizität! Jetzt!“ Im nächsten Moment
war der Raum- und Zeitkonfliktbereich von
sämtlichen anderen chelorischen Zeitlinien
und Temporalmessungen abgeschnitten. Leise
raunte der junge Unsterbliche Worte, die für
niemanden bestimmt zu sein schienen – außer
vielleicht den Cheloriern auf der
Gegenseite, doch Hal-Ko-Trun vernahm sie
trotzdem. Ohne sich von dem Gemurmel
ablenken zu lassen, überlegte der Ciguyser
allerdings ganz nebenbei, dass es sich dabei
um die Verse eines weiteren Mammut-Epos des
Gongoristen handeln musste, welche die
Herauslösung des Augenblicks aus dem
normalen Verlauf der Zeit noch einmal sowohl
formal wie inhaltlich in höchst ästhetischer
Weise einfingen. Die Schlacht musste
schließlich noch eine ganze Minute
weitergehen.
Zwei
Mamovae stießen von oben und unten auf die
DAEDALON zu, das Schiff der Riesen und
Zwerge. „Teufel auch!“ fluchte Tramptos
Malackay. Der Shaowanier hatte das Steuer
übernommen, nachdem ein Beinahe-Treffer
unmittelbar über dem Schiff die Zentrale
schwer beschädigt und viele Mitglieder der
Kommandocrew getötet hatte, darunter den
Steuermann. „Es wird langsam Zeit für diese
Zeitschleife, findest du nicht?!“ Mühsam
jagte er das Schiff aus dem Kreuzfeuer,
während Häuptling Génaro am Feuerstand sein
Bestes gab. Entsprechend der seltsamen
Gemeinschaft der zwei humanoiden Völker der
Cygonethen und der Shaowanier gab es fast
jedes Bedienelement auf der DAEDALON in zwei
Ausführungen unterschiedlicher Größe. „Nicht
nachlassen, Freunde, wir werden das
bewerkstelligen!“ ertönte Baiwels Stimme aus
der Funkanlage. „Vielleicht. Wenn er nur
nicht diese Durchhalteparolen skandieren
würde!“ piepste der Cygonethe, woraufhin der
riesenhafte Tramptos lachen musste. „Das ist
immer noch besser, als wenn er uns seine
gongoristischen Planspielgesänge vortragen
würde.“ Der Zwerg reagierte ausnahmsweise
nicht, sondern löste eine der beiden
angreifenden Mamovae auf. „Achtung,
bereithalten für Phase Drei!“ kam
schließlich die Anweisung Baiwels.
„Endlich!“ flüsterte Malackay. „Transfer!“
Die Weltraumkreuzer von Létheios, jetzt nur
noch ganze 207 an der Zahl,
entmaterialisierten erneut und verschwanden
in der Vergangenheit.
Tholokion
Ghuard blieb mit der QUINOQUU dort, wo er
war, und blickte unsicher auf die zwei
Flotten des Nadir-V-Geschwaders, die mit ihm
zurückgeblieben waren. Er hoffte, dass sie
nicht mitbekommen hatten, dass er Prors
Chaur eliminiert hatte. Nachdem ihn jedoch
mehrere Bitten um Anweisungen erreichten,
atmete er halbwegs beruhigt auf. Er wusste,
dass er jetzt nicht antworten durfte, denn
in den nächsten fünf Sekunden musste es
geschehen... Da! Eine weitere QUINOQUU
tauchte auf, und der dortige Tholokion
Ghuard sandte ein weiteres Temporales
Kommando-Override-Signal. „Wir haben jetzt
das Angriffsmuster der Humanoiden
analysiert. Ihre Raumstreitkräfte sind
soeben ins Jahr 3453 der terranischen
Zeitrechnung gesprungen, wie uns die
Temporalmessung bestätigt hat!“ erklärte der
ältere Tholokion Ghuard: „Sie versuchen, uns
mit allen Kräften daran zu hindern, dass wir
die Invasion überhaupt erst beginnen.
Bereite dich darauf vor, mir mit deinen
beiden Streitkräften zu Faktor Minus 10020
Punkt Elf Strich Acht Vier Sechs Eins zu
folgen – dort wird unsere gesamte
Streitmacht aus allen Zeitperioden die
Menschheit endgültig vernichten! Akzeptierst
du diesen Temporalen Imperativ!?“
Der
jüngere Tholokion Ghuard starrte verwirrt
auf das Abbild seines nur wenige Minuten
älteren Selbst. Allmählich war er sich nicht
mehr sicher, welchem seiner Doppelgänger er
selber noch trauen konnte. Trotzdem fasste
er sich, denn noch lief alles nach Plan.
„Jawohl, ich akzeptiere! An alle Schiffe –
bereithalten zum Zeitsprung!“ Die zwei fast
identischen Geschwader sprangen in die
Vergangenheit. Tholokion Ghuard sprang um
wenige Minuten in die Vergangenheit, um sich
selbst genau die Anweisungen zu geben, die
er soeben vernommen hatte. Dann sprang er,
als er die zwei Nadir-V-Flotten zum zweiten
Mal innerhalb weniger Augenblicke
verschwinden sah, an den Zeitpunkt, zu dem
die Raumflotte von Létheios sich in
Wirklichkeit transferiert hatte.
*
Sieben Minuten vorher:
Soeben hatte die DELTA GÓNGORA die
Verzerrung der Temporalen Synchronizität
aktiviert und damit die Zeitlinie gegen alle
chelorischen Eingriffe abgesichert. Kaum
hatte Baiwel sein leises Gedicht gemurmelt,
erschienen auch schon die 207 zusätzlichen
Létheios-Schiffe aus der Zukunft und griffen
ebenfalls in den Kampf ein. „Feuert auf die
Schiffe, die ihr beim ersten Mal noch nicht
getroffen habt, und sorgt gleichzeitig
dafür, dass nicht eure früheren Ichs
abgeschossen werden!“ rief der ältere Baiwel
noch einmal den Schiffen seiner Verstärkung
zu, obwohl dieser Punkt bereits allen klar
war und die Bordcomputer untereinander
bereits die entsprechenden Zielkoordinaten
programmierten, schneller als die
menschlichen Besatzungsmitglieder es je
vermocht hätten. Baiwel nahm Verbindung mit
seinem jüngeren Selbst auf. „Es klappt
anscheinend, kleiner Bruder! Beim
Neutransfer werden wir von unserer eigenen
Synchronverzerrung nicht relativiert!“ –
„Ja, und die Tatsache, dass wir überhaupt
noch da sind, lässt darauf schließen, dass
sich die Chelorier durch Tholokion Ghuard in
die Irre führen ließen, großer Bruder!“
Die beiden unterbrachen die Verbindung und
setzten den Kampf fort.
Die
MORENA, der Kreuzer Qe-Le’Mahars, erhielt
einen Beinahe-Treffer und taumelte
beschädigt durch den Raum. Sie fing sich
zwar wieder und war stabilisiert, trotzdem
waren die Schutzschilde zerstört. Scheinbar
reglos saß Asera Ghor vor der
funkensprühenden Steuerkonsole und nahm die
elektrischen Stöße gar nicht wahr. „Sieh
doch nur!“ rief sie und deutete auf den
Schirm. Qe-Le’Mahar hob den Kopf und weitete
die Augen: Die zweite MORENA aus der Zukunft
wirbelte steuerlos durch das
dreidimensionale Schlachtfeld; im nächsten
Augenblick hingen zwei Mamovae an ihrem Heck
und feuerten ihre geballte Ladung
Metagravitationstorpedos ab. In eiskaltem
Erstaunen sah Qe-Le’Mahar zu, wie sein
zukünftiges Selbst und auch das von Asera
Ghor in einem Mahlstrom aus implodierender
Materie vergingen, bevor dieser selbst
unterhalb des Ereignishorizontes
verschwand... „Wie wunderschön“, hauchte er
und fühlte überhaupt kein Erschrecken. Dann
machte ihn etwas stutzig, an der Funkkonsole
leuchtete ein Signal auf und eine kurze aber
höchst komplexe Folge von
Okieeanschriftzeichen flimmerte über den
Monitor. Asera sah ihn verwirrt an. „Was war
das?“ Doch Qe-Le’Mahar machte sich bereits
wieder an die Reparatur des
Reserve-Energiegenerators für die
Schutzschilde. Die Stimme des
kommandierenden Baiwel Fjodorow ertönte
wieder aus dem Polyangulator Hermes.
„Achtung! Bereithalten für Phase Vier.
Zweite Verstärkung!“ – „Unglaublich!“ rief
die Chelorierin aus. „In sieben Minuten
werden wir tot sein – und das genau auf die
Art, wie wir es gerade gesehen haben!“
Qe-Le’Mahar schwankte durch die heftig
vibrierende Zentrale zum
Zeittransfer-Generator und stellte die
Koordinaten ein. „Nun, laut Baiwels Plan
wird die nächste Verstärkung unsere eigene
Zerstörung verhindern, meine Schwester. Das,
was wir gerade gesehen haben, muss sich also
keineswegs wiederholen. Die Großzahl der
zweiten Welle hat überlebt, und nach dem
nächsten Zeittransfer wird es sehr viele
Schiffe in vierfacher Ausgabe geben. Darüber
hinaus werden wir in der Phase Vier die
Zerstörung vieler Schiffe verhindern, die in
Phase Drei stattfindet, und damit verstärken
wir unsere Streitkräfte noch mehr. Wir
werden dann dem Gegner letztendlich mit
einem Verhältnis von Eins zu Eins
gegenüberstehen und ihn besiegen.“
Asera
Ghor horchte auf. Irgendetwas missfiel ihr
an dem Tonfall, in dem der Okiiean sprach,
und auf einmal begriff sie, dass das alles
für ihn nur Theorie war und niemals mehr
sein würde. „Du scheinst aber etwas ganz
anderes im Sinn zu haben!“ rief sie aus,
ihrer plötzlichen Eingebung folgend. Der
Okiiean sah sie erstaunt an, zögerte einen
Moment und nickte ihr dann anerkennend zu.
„Hm. Dein Scharfsinn und deine besondere
Gabe, einen tatsächlichen Sachverhalt zu
erkennen, sind wirklich erstaunlich. Halte
dich bereit! Wir transferieren jetzt!“ Ein
weiterer Torpedo explodierte unmittelbar
hinter der MORENA und beschädigte eines der
Triebwerke. Qe-Le’Mahar sah, dass sie nicht
länger warten konnten, und aktivierte den
Zeittransfer-Generator, bevor auch dieser
ausfallen würde. Asera verfolgte auf dem
Schirm mit, wie sich die Umgebung in ein
farbenflimmerndes Pandämonium der Zeit
verwandelte.
Inzwischen
sandte Tholokion Ghuard das von ihm bereits
vereinbarte Signal an sein sieben Minuten
jüngeres Selbst, und er erhielt die
Bestätigung dieses Signals, als sämtliche
Létheios-Kreuzer erneut verschwanden – mit
dem jüngeren Tholokion Ghuard. Nun wartete
auf ihn die schwerste Aufgabe…
*
Nachdem die angreifenden
Schiffe von Létheios verschwunden waren,
sammelten sich die verbliebenen Chelorier
und formierten sich. Kumuru Shina, eine
Unteroffizierin, hatte nach Prors Chaurs
Zerstörung den Befehl über die beiden
Nadir-V-Geschwader übernommen, von denen
noch ca. 700 Schiffe übrig waren. Auf ihrem
Schirm tauchte das Gesicht von Tholokion
Ghuard auf. „Es scheint, als ob die Menschen
eine Art Schutzzone temporaler Natur um
diesen Sektor gelegt haben. Eigentlich
müssten längst Hunderte unserer Schiffe hier
sein, um uns zu unterstützen!“ eröffnete
Ghuard ohne Umschweife die Unterredung.
Kumuru Shina erwiderte: „Unsere
Elixarion-Mirlane ist derselben Ansicht. Sie
hat nur den Struktureinbruch bei Faktor
Minus 10020 registriert, aber keinerlei
Bewegungen unserer eigenen Flotten.
Allerdings ist da noch etwas anderes. Etwas
ganz anderes, Kommandant. Unsere
Elixarion-Mirlane registriert chronale
Interferenzen – wir wissen nicht, was das
bedeutet, aber der Raum um uns scheint von
einzelnen Ausläufern temporaler Instabilität
durchzogen zu sein.“ Chronasthenie,
durchraste es Tholokion Ghuard. Die
Bedrohung durch die Nullzone, die sich bei
jedem Temporaltransfer um ein Vielfaches
vergrößern würde, versetzte den Chelorier in
Angst und Schrecken. „Das alles scheint eine
Falle zu sein,“ fügte Kumuru Shina noch ihre
Einschätzung der Situation hinzu. Tholokion
Ghuard nickte. „So sieht es in der Tat aus.
Wir werden zurückkehren an den Ausgangspunkt
der Operation, also Faktor Plus 19. Halten
Sie sich bereit für den Transfer...“ –
„Kommandant!“ unterbrach ihn Shina,
beunruhigt rotierte ihr Rüssel. „Unsere
beiden Geschwader stammen aus der Real-Zeit
und aus der Vergangenheit – Faktor Minus
Zwei Jahre! Wenn wir uns nun um 19 Jahre in
die Zukunft begeben, bringen wir uns um die
Möglichkeit, uns selbst in der Vergangenheit
zu helfen. Die Schiffe der Menschen waren
teilweise doppelt vorhanden, genau wie wir;
wir sollten ebenfalls in die Vergangenheit
springen und aus unseren zwei
Nadir-V-Geschwadern vier machen. Da wir und
die Menschen uns in derselben temporalen
Isolation befinden, sollte dies möglich
sein, Kommandant.“ Tholokion Ghuard
bewunderte ihren Scharfsinn. Ihr Schiff
musste als erstes zerstört werden, sobald er
wieder in der Schlacht war, doch er
bedauerte diesen Schritt maßlos. Er hätte
sie gerne näher kennengelernt, sie mochte
sogar in der Lage sein, sich ihm
anzuschließen. Vielleicht würde eine
Gefangennahme glücken...
„Diese
Zeit ist meine Vergangenheit, Leutnant
Shina, und der Angriff wird von den Menschen
des Jahres 7523 geführt. Wir werden an den
Ausgangspunkt ihrer Operation zurückkehren
und sie verhindern, bevor sie beginnt. Diese
Schlacht wird nie stattgefunden haben!
Begreifen Sie doch, Shina, es ist das Ziel
der Menschen, dass wir hierbleiben! Sollten
wir diesen Konflikt fortsetzen, wird eine
raumzeitlose Zone entstehen, die nicht nur
unsere Geschwader sondern auch dieses
gesamte Sonnensystem in sich aufnehmen wird!
Wir dürfen auf keinen Fall die
Zeitstrom-Resynchronizer einsetzen, solange
wir in diesem instabilen Bereich sind!“ –
„Jawohl, Kommandant!“ rief Shina
unglücklich, jedoch gehorsam.
Ghuard fluchte auf einmal.
Fast fühlte er sich wieder genau so
wahnsinnig, wie er schon einmal gewesen war.
Die Chronasthenie in diesem Sektor
lieferte ihm das perfekte Argument, um die
Chelorier von hier fortzuführen. Doch wusste
er damit auch gleichzeitig, dass er und die
Raumstreitmacht der Menschen einer viel
vernichtenderen Gefahr ins Auge blicken
mussten.
*
Eine Stunde später meldeten
die Elixarion-Mirlanen sämtlicher
chelorischer Mamovae, dass sie sich wieder
in einer temporal stabilen Region befunden.
Ghuard wiederholte seinen Befehl an die
Flotte, in die Zukunft des Jahres 7523 zu
springen und bereitete seinen eigenen
Transfer vor. Die organischen Raumschiffe
verschwanden; und Tholokion Ghuard seufzte
zufrieden. Wenn der Plan funktionierte,
würden sie in einer Zeit landen, in der es
seit zwanzig Jahren keine chelorische
Zivilisation mehr gab und aus der sie
aufgrund der Verzerrung der Temporalen
Synchronizität niemals wieder in die
Raumschlacht in der Möbius-Diffraktion
zurückkehren konnten – wahrscheinlich würden
sie mühelos von den Menschen
gefangengenommen werden, egal wie viele
überlebende Schiffe aus den ihm noch
bevorstehenden Zeitschleifen er ihnen auf
die gleiche Weise hinterherschicken würde
(wenn diese ihm noch glauben würden). Doch
Tholokion Ghuard war auch erfüllt von Wehmut
und Zerrissenheit, als er wieder um zwei
Stunden und dreizehn Minuten in die
Vergangenheit transferierte. Mit voller
Kraft steuerte er die QUINOQUU zurück in den
Raum- und Zeitkonflktbereich und war sich
nicht sicher, was er sich mehr wünschte -
noch Teil der dortigen Verzerrung oder aber
nun von ihr ausgeschlossen zu sein.
2
Als sich die Sicht nach dem
temporalen Transfer wieder klärte, waren die
Létheiosianer und ihre Verbündeten erneut in
der Vergangenheit – wie eine Vielzahl der
Schiffe aus Phase Zwei und Drei. Fünf
Minuten, bevor die Chelorierin und der
Okiiean sterben würden. Qe-Le’Mahar schien
kaum beeindruckt – stattdessen öffnete er
den Schacht für die Hologrammsonde und
programmierte sie darauf, Bild und
Magnetfeld der MORENA zu projizieren und ein
Signal in einem Okiiean-Code zu senden, den
nur er selber empfangen und verstehen
konnte.
„Das
ist das Signal, das wir gerade erhalten
haben!“ begriff Asera. „Aber warum haben wir
es erst erhalten, nachdem die zweite MORENA
schon zerstört war?“
„Die
MORENA wird nicht zerstört. Die
Hologrammsonde projiziert ein Abbild der
MORENA, und außerdem ein Abbild von zwei
Mamovae, so dass es den Anschein erwecken
wird, als sei die zweite MORENA zerstört,
immer wieder und immer wieder, in jeder
Wiederholung der Zeitschleife! Gleichzeitig
sendet sie jedes Mal ein Signal an mich,
damit ich nicht etwa den Versuch unternehme,
diese zweite MORENA zu retten! Außerdem
korreliert die Sonde ihre Daten nach jedem
Neutransfer neu mit dem Computer der MORENA,
so dass die Projektion jedesmal an einer
anderen Stelle erscheint und daher auch von
den anderen Computern unserer Flotte kein
Rettungsversuch berechnet werden kann!“ –
„Wir nehmen doch nicht etwa Reißaus,
Qe-Le’Mahar?!“ fragte Asera unsicher.
Qe-Le’Mahar sah sie festen Blickes an.
„Nein, meine Schwester. Es mag dich
vielleicht überraschen, doch es war niemals
meine Absicht, an dieser Auseinandersetzung
teilzunehmen. Allerdings werden wir unseren
Kampf an einer Stelle fortsetzen, wo er
weniger aussichtslos ist. Dass wir uns
endlich in diesem Sonnensystem befinden, ist
von größerer Bedeutung, als du oder
irgendein anderes noch lebendes Wesen ahnen
kannst.“
Mit
neuem Ziel und aktivierten
Lichtumleitungsschirmen entschwand die
MORENA aus dem Getümmel von umher rasenden
Schiffen sowie Transplosionen oder
Singularitätenbildungen, während die
Hologrammsonde ihren Platz einnahm und das
Abbild des Okieeanschiffes projizierte.
Die
anderen Schiffe hatten sich mit Todeswahn
und Wagemut erneut in die Schlacht geworfen.
In alle Richtungen, in die sich der
Intuitiv-Phänomenologe und Teleporter
Tanavin Naragor in seinem zyklotronischen
Kampfstand an Bord der IKARON orientierte,
tobte der entsetzliche Kampf. Schwere
Interferenzen legten die
Computerverbindungen der Létheiosianer
untereinander lahm, dies bedeutete, dass
keine exakten Berechnungen zur Verhinderung
von Zerstörungen mehr möglich waren.
Trotzdem waren die Kreuzer der Menschen
jetzt eindeutig den Cheloriern ebenbürtig,
wenn nicht sogar bereits zahlenmäßig
überlegen. „Jetzt müssen wir sie komplett
erwischen, denn wenn wir weitere Überlebende
entkommen lassen, werden sie dasselbe machen
wie wir!“ erkannte Baribal Longinus. „Sie
haben unseren Plan wahrscheinlich schon
durchschaut. Es reicht ein einziges
entkommendes Schiff, das sich selbst
tausendmal multipliziert, dann sind wir
wieder hoffnungslos unterlegen!“ – „Mich
beunruhigen die Chelorier viel weniger seit
unserem letzten Transfer! Diese starken
Interferenzen um uns herum machen mir
weitaus mehr zu schaffen!“ entgegnete
Tanavin, als er gerade eine weitere Mamova
traf.
An
der Backbordseite der IKARON war in der Tat
eine eigenartige Energieschliere
aufgetaucht, die perlschnur- und
peitschenartig hin- und herzuckte –
innerhalb dieses wabernden Blitzfeldes
konnte man seltsame Raster aus goldenen
Energiestrahlen vor einem endlos tiefen
roten Hintergrund erkennen, dann löste sich
das Phänomen wieder auf.
Plötzlich
trafen heftige Druckwellen die IKARON von
achtern, als sie einer dieser Verwerfungen
zu nahe kam, und rüttelten das Schiff heftig
durcheinander. Explosionen ertönten aus der
Tiefe des Schiffes, und einige Konsolen in
der Zentrale gingen in Flammen auf. Die
Schadensbekämpfungsmannschaften meldeten,
dass der Zeitstrom-Indensator zerstört war.
Baribal inzwischen trieb das Feuer in der
Zentrale mit einem Blick seiner Augen zur
Implosion – es wurde immer kleiner und
verschwand schließlich in sich selber. Der
Vize-Präsident der Liga der Psioniker lachte
grimmig, doch in der nächsten Sekunde
fluchte er fassungslos. „Gütige Galaxis!“
Auf dem 3D-Sternenfeld sahen sie gerade eine
der vier existierenden DELTA GÓNGORAs im
gesammelten Torpedobeschuss von drei Mamovae
in brennenden Trümmerteilen
auseinanderbrechen, die zunächst ins All
wirbelten, doch dann jeweils in einzelne
Singularitäten zusammenfielen. Im selben
Augenblick löste sich eine weitere DELTA
GÓNGORA auf, als hätte es sie nie gegeben,
stattdessen tauchten zwei Mamovae wieder aus
dem Nichts auf, die eigentlich bereits
zerstört gewesen waren. „Farewell, my
summer love“, murmelte Baiwel trocken,
als er seine zwei zukünftigen Ichs sterben
sah.
Exakt
in dem Moment, in dem dies geschah, zuckte
plötzlich ein golden gleißender Blitz durchs
All, viel immenser als die bisherigen
Störungen, und erhellte die dunkle Nacht mit
blendendem Licht. Entgeistert wandten alle,
die es sahen, Chelorier wie Menschen, den
Blick ab. Mitten im All klaffte ein
gewaltiger zackiger Riss, aus dem
unermesslich viele Blitze in alle Richtungen
zuckten. Und diese Ausläufer trafen in ihrer
Willkür sowohl Mamovae wie auch
Weltraumkreuzer der Menschen. „Meine Güte!
Was ist das?“ Baiwel war einem
Erstickungsanfall nahe. Die QUINOQUU, die
gerade wieder an dem Schauplatz eintraf,
manövrierte in sicherem Abstand, um nicht
von den Cheloriern bemerkt zu werden, aber
Tholokion Ghuard rief sofort jene DELTA
GÓNGORA, die gerade das Oberkommando hatte.
„Das ist eine Chronasthenie-Furche,
sie entstand aufgrund der ständigen
Zeitsprünge! Eine Zone, in der es weder Raum
noch Zeit gibt. Wir haben die Struktur des
Kontinuums extrem geschwächt – aber bei
einem weiteren Zeittransfer wird sich das
Volumen dieser Raumzeitgesetzwidrigkeit noch
um ein Vielfaches ausbreiten!“ – „Wir müssen
uns zurückziehen!“ rief Hal-Ko-Trun aus
seinem zyklotronischen Kampfstand Baiwel zu.
Auch von der DAEDALON und anderen Schiffen
traf die Bitte ein, den Kampfort umgehend zu
verlassen. „Nein! Wenn wir jetzt abrücken,
war alles umsonst! Wir müssen kämpfen, bis
das letzte Schiff der Chelorier
ausgeschaltet ist!“ kommandierte Baiwel
energisch. Sollte er leicht unbeherrscht
geklungen haben, so hatte es jedenfalls
keinerlei weitere Auswirkungen: Die
Weltraumkreuzer folgten seiner entschiedenen
Aufforderung mit dem Mut der Verzweiflung
und blieben im Kampf gegen die Chelorier. Es
war sowieso nicht mehr viel übrig von den
ursprünglich tausend Schiffen der zwei
Nadir-V-Geschwader…
*
Die PANDORA erreichte
inzwischen das SOL-System der Real-Zeit, und
sofort registrierten sie die seltsamen
Veränderungen. „Eine gewaltige
Raumzeitgesetzwidrigkeit befindet sich auf
Höhe der Erdumlaufbahn!“ rief Thorndyce
North ungläubig. „Das ist die Chronasthenie-Furche.
Sie befindet sich außerhalb der
Gesetzmäßigkeiten von Raum und Zeit, daher
ist sie zu jeder Zeit in gleichem Maße
sichtbar, in fernster Vergangenheit ebenso
wie in weiter Zukunft,“ erklärte Orin
Tadschuriath. „Entstanden ist sie durch die
vierfache Intensität der temporalen
Resynchronisation, die Baiwels Flotte
verursacht hat. Sollte seine Flotte noch
einen weiteren temporalen Transfer
durchführen, dürfte sich die Intensität der
Chronasthenie-Furche noch um ein
Vielfaches verstärken, so dass sie alles im
Umkreis von 19 Lichtminuten absorbieren
wird...“ – „Die inneren Planeten... Die
Sonne!“ begriff Pylades entsetzt. „Und das
alles wegen Baiwels Angriff!“ In der
Zwischenzeit bemerkte North noch etwas
anderes. „Es patrouillieren keinerlei
Wachschiffe im SOL-System. Wir könnten
ungehindert hineinfliegen!“ Prinz Midja
fauchte grimmig. „Ja. Baiwel hat sie in sein
Planspiel verwickelt, die zwei Jahre in
unserer Zukunft tobt. Die Verzerrung der
Temporalen Synchronizität scheint zu
funktionieren. Ich hätte es nicht für
möglich gehalten, dass er - einst ein so
empfindsamer Dichter und Musiker - zu
solchen Taten fähig ist.“ Trotz des Ernstes
der Lage musste Pylades plötzlich auflachen.
„Du weißt doch, Baiwel ist ein wahrhafter
Gongorist! Der Stil seiner Strategie für
diese Raumschlacht entspricht vollkommen
seiner grotesken Rhetorik.“
Der
Gargantuan verzog das Gesicht. Er vermochte
es in dieser Situation nicht, den kurzen
Moment der Leichtigkeit, welcher Pylades
erfasst hatte, in seiner eigenen Gefühls-
und Gedankenwelt zu lokalisieren - auch wenn
er ihn ansonsten gut verstanden hätte. Midja
liebte die sonderbaren Romane des jungen
Altairaners ebenfalls. Ohne Kommentar wandte
er sich ab und trat zu Gatin Parker. "Setzen
Sie Kurs auf die Chronasthenie-Furche
und beschleunigen Sie auf
Zwischenraumgeschwindigkeit", wies er die
Steueroffizierin an. Mit fünfzigfacher
Lichtgeschwindigkeit jagte die PANDORA in
das System hinein, vorbei an Neptun, Saturn,
Mars (der Jupiter lag in seinem Orbit um die
Sonne gerade auf der anderen Seite des
Systems). Nach wenigen Minuten näherte sie
sich der Erde und dem Riss in der
Raumzeitstruktur. "Bleiben Sie auf sicherem
Abstand!" sagte Midja und wandte sich an die
anderen Unsterblichen. "Also, was tun wir?"
- "Als wichtigstes müssen wir diesen Riss
wieder schließen - wir brauchen also
Perthaycs 'Tor der temporalen Harmonie'. Es
sendet diverse Energien aus, die den
geschwächten Bereich stärken werden, und die
Chronasthenie-Furche wird sich
schließen", erklärte Orin Tadschuriath. "Das
Tor wird sich in allen Zeitlinien bemerkbar
machen, in denen dieser Riss bereits
vorhanden ist, und ihn reparieren." - "Gut.
Aber was ist mit Baiwel?" fragte Midja. "Er
kann mit seiner Flotte das Tor durchfliegen
und würde hier bei uns auftauchen. Die
Harmonisierung wird den Effekt haben, alle
temporalen 'Doppelgänger' miteinander zu
verschmelzen!" rief Pylades. "So dass wir
statt vier Baiwels wieder einen haben?"
vergewisserte sich der Gargantuan. "So in
etwa. Das Problem aber ist: Wie sollen sie
wissen, was dieses Tor bedeutet? Wir können
auf keinen Fall zu ihnen springen, bevor die
Chronasthenie-Furche nicht wieder
verschwunden ist!" rief der Xandyrier
ungeduldig.
Das
wabernde Phänomen auf dem Bildschirm schien
immer größer zu werden. Als ein Blitz dicht
an der PANDORA vorbeizuckte, setzte Gatin
Parker das Schiff noch um einige hundert
Kilometer zurück. Orin wirkte sehr
angestrengt. Alle starrten ihn an, denn
niemand wusste, was zu tun war... Und Midja
vertraute diesmal seinen eigenen Instinkten
nicht, die ihn dahingehend drängten, er
solle mit der PANDORA durch Perthaycs Tor
fliegen!
Schließlich fasste sich der
Tadschuriath. "Ich werde meine mentalen
Energien auf das Tor konzentrieren und
versuchen, den Jungen zu erreichen!" Pylades
schüttelte sofort heftig den Kopf und wollte
seiner Unzufriedenheit mit Worten Ausdruck
verleihen, doch Prinz Midja bedeutete ihm
mit einer Handbewegung, zu schweigen. "So
machen wir es - im Augenblick gibt es keine
andere Möglichkeit. Aktiviere das 'Tor',
Pylades. North, Kampfstationen!" Seinen
entschiedenen Worten folgte eine gewisse
Erleichterung - sie konnten kaum noch länger
warten, ganz egal, was geschehen würde.
"Jawohl, Sir!" Der Vize-Commander eilte
davon, und Pylades verließ ebenfalls eilig
die Zentrale. Wenn mich mein Optimismus
nur nicht trügt..., dachte er und
wusste nicht, wie er diesen Gedanken zu Ende
denken sollte.
*
Das Blatt hatte sich erneut
gewendet. Zwar hatten die Streitkräfte der
Galaktischen Freischaren fast jedes
Chelorierschiff aufgelöst, aber um sie herum
tobte ein wahrer Orkan. Ein zuckender Blitz
traf die letzte verbliebene DAEDALON und
neutralisierte die Schutzschilde ebenso wie
die Triebwerke. Fluchend stießen Häuptling
Génaro und Tramptos Malackay in den
rauchenden Korridor zum Maschinenzentrum
vor, um höchstpersönlich Reparaturen
durchzuführen, da anscheinend niemand mehr
dort unten am Leben war. Plötzlich traten
ihnen aus den dunkelroten Rauchschwaden zwei
Chelorier entgegen. Tramptos riss seine
Handzeitkugelblitzwaffe hoch und drückte ab.
Die beiden Chelorier schrien irgendetwas
absolut Unverständliches, bevor sie von den
modifizierten Strahlen getroffen wurden und
in grünem Funkeln entschwanden. "Die
DAEDALON ist also geentert worden!" rief der
Cygonethe: "Wir müssen machen, dass wir hier
wegkommen!" Doch der Shaowanier lief weiter
in der Richtung, aus der die beiden
Chelorier gekommen waren. "Das war kein
Enterkommando, Häuptling. Wahrscheinlich
haben sie sich im letzten Moment vor der
Transplosion ihres Schiffes hierher
transportiert", erklärte er.
Mittlerweile
lagen die letzten sechzehn noch vorhandenen
Mamovae ruhig vor den Kanonenmündungen von
vier Dutzend Létheios-Kreuzern, darunter der
IKARON. Baribal Longinus schüttelte den
Kopf, ohne es zu bemerken. "Absolut
unverständlich. Wieso ergeben sie sich
nicht?" - "Nehmen wir sie gefangen?" fragte
Tanavin Naragor und stieg aus seinem
zyklotronischen Kampfstand. Baribal nickte.
"Es ist Zeit für ein Ende. Meldet Baiwel,
wir gehen an Bord des Chelorier-Schiffes,
das den Verband anführt!" Er berührte
Naragor, welcher sich mit ihm zusammen
entmaterialisierte.
Auf
der Kommandostation der Mamova KISAMO
tauchten die beiden wieder auf. Eine
Chelorierin blickte ihnen gefasst entgegen,
als hätte sie ihre Ankunft bereits erwartet.
"Ich bin Baribal Longinus, Vize-Präsident
der Liga der Psioniker. Dies ist Tanavin
Naragor, Intuitiv-Phänomenologe und
Teleporter", stellte Baribal sich und seinen
Gefährten vor. "Ich bin Leutnant Kumuru
Shina!" erklärte die Chelorierin: "Das war
eine brillante Falle, die Sie uns da
gestellt haben." Ernst und Bewunderung lagen
in ihrer Stimme, dann wies sie auf den
Bildschirm, auf dem die Chronasthenie-Furche
zu sehen war. "Aber Sie werden hier genauso
untergehen wie wir." - "Nicht, wenn Sie sich
jetzt ergeben, Leutnant. Wir werden Sie
sicher aus diesem Gebiet heraus
eskortieren", sprach Tanavin Naragor: "Jedes
weitere Opfer ist sinnlos!" - "Nicht so
sinnlos, wie Sie denken. Sollte die KISAMO
oder eine andere unserer Mamovae jetzt einen
Zeittransfer durchführen, dürfte die Chronasthenie-Furche
nicht nur Sie, sondern auch die vier inneren
Planeten und die Sonne zerstören. Es besteht
sogar die theoretische Möglichkeit, dass es
sie niemals gegeben haben wird -
genausowenig wie das Volk der Terraner, von
welchem Sie ja bekanntlich abstammen!"
Alarmiert
sahen sich Baribal und Tanavin an, als sie
wahrnahmen, dass Kumurus Hand über dem
Zeitsensor des Orcomps verharrte. "Aber Sie
haben es nicht getan, Shina!" rief Baribal.
"Ihnen wird bereits die ganze Sinnlosigkeit
dieses Krieges bewusst - und dort draußen
sehen Sie die furchtbaren Folgen Ihrer
Zeiteingriffe!" Plötzlich drängte sich ein
Slotram vor. "Lassen Sie mich diese
gefährlichen Psioniker neutralisieren, bevor
sie uns beeinflussen können!" bat er und
starrte Tanavin an, ähnlich wie eine
Raubkatze ihre Opfer anstarrt, doch Shina
stieß ihn zurück. "Sie werden nichts
dergleichen tun, Slotram! Nein - es geht
nicht mehr um die humanoiden Zivilisationen,
nicht länger! Wir haben einen Gegner
gefunden, der viel bedrohlicher ist. Die
Zeit selber... Kehren Sie auf Ihr Schiff
zurück, Humanoide! Wir ergeben uns!" - "Ich
danke Ihnen", sagte Tanavin Naragor, dann
teleportierte er mit Baribal zurück auf die
IKARON und rief die DELTA GÓNGORA. Baiwel
erschien auf dem Schirm und sah furchtbar
erschöpft aus. "Das war knapp, aber wir
haben es geschafft. Jetzt müssen wir hier so
schnell wie möglich weg. Die Chelorier
werden wir als unsere Gefangenen
eskortieren!" erklärte Baribal hastig.
"Gut",
seufzte Baiwel, seltsam erleichtert.
"Achtung, an alle Schiffe - wir..." Zwei
weitere Dinge geschahen, und Baiwel starrte
verstört auf den Bildschirm. Eine
dunkelviolette Lichtquelle war erschienen,
in einiger Entfernung zur Chronasthenie-Furche.
Ein warmes, helles Licht breitete sich aus
dem Phänomen aus. Es wirkte jedoch
keineswegs bedrohlich, sondern strahlte
einen fast metaphysischen Frieden aus. "Was
immer das ist, es beeinflusst die andere
Raumzeitgesetzwidrigkeit - sie wird kleiner,
ihre Blitze werden seltener und nehmen an
Intensität ab!" meldete Hal-Ko-Trun. "Ein
sehr anziehendes Phänomen, aber woher es
kommt, ist... Baiwel?" Der Angesprochene
schien ihn nicht zu hören. Er war in der
Betrachtung dieses Phänomens versunken und
glaubte plötzlich, einen lautlosen Ruf zu
vernehmen. "Orin?" hauchte er. Dann fasste
er einen Entschluss. "Wir fliegen hinein!" -
"Was?!" Hal-Ko-Trun war nicht überzeugt.
"Wir wissen doch nicht, was das ist. Unsere
Sensoren registrieren überhaupt nichts!"
Baiwel ignorierte ihn und gab die Anweisung
an seine Flotte, in diese Lichtquelle
hineinzufliegen.
Je
näher die DAEDALON dem Phänomen entgegen
schlingerte, um so friedlicher wirkte die
Besatzung, fast wie in Trance, während
Tramptos Malackay weiterhin die
Energiezufuhr für das Nottriebwerk zu
stabilisieren versuchte. Dann löste sich die
DAEDALON allmählich in einem goldenen
Glitzern auf und verschwand. Daraufhin
wagten auch die anderen Schiffe den
Durchflug.
*
Es
waren noch ca. 30 Létheiosianische
Weltraumkreuzer an der Gefahrenstelle, und
die Chronasthenie-Furche hatte sich
deutlich verringert, als die
Struktursensoren der DELTA GÓNGORA erneut
ausschlugen. Noch eine weitere DELTA GÓNGORA
erschien - und die Raumzeitgesetzwidrigkeit
vergrößerte sich wieder. Schwer
angeschlagen, an manchen Stellen brennend,
trudelte sie steuerlos auf die erste DELTA
GÓNGORA zu, der mit Mühe ein Ausweichmanöver
gelang. Auf Baiwels Monitor tauchte das
Gesicht seines eigenen Selbst auf, nur
wenige Minuten älter. Er blutete, und sein
Gesicht war von Rauch und Schweiß
geschwärzt, im Hintergrund der Zentrale
brannte es. "Keine Zeit für Erklärungen.
Schick sofort alle Schiffe in das
Lichtphänomen! Da ist ein riesiges Schiff
aufgetaucht, aber es ist einzig und allein
hinter mir her! Du musst…"
Das
Schiff aus Weißem Licht erschien. Gewaltige
Lichttürme ragten wie Zacken eines Sterns in
alle Richtungen - es war mehrere Kilometer
lang und von unglaublicher Wendigkeit, als
es auf die stark beschädigte DELTA GÓNGORA
zustieß. Eiseskälte erfasste den jüngsten
der Unsterblichen, als er zusah, wie sie
getroffen wurde und implodierte. Dann war es
sofort über der jüngeren DELTA GÓNGORA und
verharrte dort...
Während
die letzten Létheios-Kreuzer in das
dunkelviolette Lichttor flohen und
verschwanden, blieb die QUINOQUU noch und
flog zu dem wehrlosen Flaggschiff der
Galaktischen Freischaren. Wie gebannt sah
Tholokion Ghuard auf das außerordentliche
Gebilde, das er noch nie zuvor in seinem
langen Leben gesehen hatte. Er erschrak, als
ein Signal auf seiner eigenen Ruf-Frequenz
eintraf, aber er zögerte nicht, seinen
Monitor zu aktivieren, wo er das sah, was er
schon erwartet hatte. Es war er selbst, um
viele Jahre jünger. "Du bist immer noch der
Aberwitzigste, alter Freund! Eine
Falle, die mich überrascht hat. Alle
Achtung. Doch wie immer hast du nicht
begriffen, dass ich zu jedem Zeitpunkt weit
über das, was ist, hinausdenken kann - egal,
wie weit du mir zeitlich voraus bist... Und
jetzt - ein würdiges Ende für meine Person!"
Das WEISSE SCHIFF richtete einen
Umlenkstrahl auf die QUINOQUU. Neutralisiert
stürzte sie in einem rasenden, engen
Spiralflug auf die Chronasthenie-Furche
zu und tauchte in sie ein, wo sie
verschluckt wurde. Kein Schrei war zu hören
gewesen...
Baiwel
war äußerst gefasst, als die DELTA GÓNGORA
mit Traktorstrahlen in das Innere des Weißen
Schiffes manövriert wurde. Schließlich hatte
er exakt eine Woche lang Zeit gehabt, sich
auf seinen Tod vorzubereiten.
*
Fragment
aus dem holographischen Kristallbrief
Athanakreons, jenem einzigen Artefakt, das
die Chrono-Archäologen von Zeonarran nach
dem Zeitkrieg in der menschenleeren siebten
Galaxis fanden:
"... ich
freue mich aber, dass du beschlossen hast,
diesen komplexen Lebensweg zu beschreiten.
Es gibt so viele interessante Dinge, von
denen wir keine Ahnung haben. Ein Mensch
mit normaler Lebenserwartung kann nur ein
Winzigstel an Wissen akkumulieren, bevor
er bereits wieder stirbt - doch du
hingegen kannst unendlich viel lernen,
denn du hast das Geschenk der
Unsterblichkeit akzeptiert.
Du wirst
zur gelehrtesten Gelehrtin aller Zeiten
werden, versiert in allen Wissenschaften,
allen Künsten, allen körperlichen
Disziplinen und möglicherweise allen Arten
und Weisen, wie man spielen kann. Ich
hoffe natürlich, dass du nicht den
Verstand verlieren wirst - denn diese
Gefahr besteht, nicht nur für dich,
sondern auch für die anderen
Unsterblichen.
Du musst
sehr achtsam sein, Sadulist - im Umgang
mit dir selber. Du darfst nicht dem Rausch
der Zeitlosigkeit verfallen, du musst dir
selbst bewusst bleiben. Solltest du deine
Situation vergessen, könnte es sein, dass
du verblendet wirst. Wenn dich die
Jahrhunderte auffressen und du umnachtet
bist von zu vielen Gedanken, Gefühlen und
Situationen, dann besinne dich darauf, wer
du bist. Gönne deiner Seele die Zeit zum
Atemholen, und seien es Jahrzehnte... "
***
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